AZ-Interview

Ludwig Spaenle: Der AfD geht es darum, bestehende Tabus zu brechen


Am Tag seiner Vorstellung als Antisemitismus-Beauftragter der Staatsregierung: Ludwig Spaenle vor der Frauenkirche.

Am Tag seiner Vorstellung als Antisemitismus-Beauftragter der Staatsregierung: Ludwig Spaenle vor der Frauenkirche.

Von Sven Geißelhardt

Ludwig Spaenle ist seit Mai 2018 Beauftragter der Landesregierung für Antisemitismus - zum Holocaust-Gedenktag spricht er über die AfD und andere Probleme.

München - Der CSU-Politiker (57) Ludwig Spaenle war von 2013 bis 2018 bayerischer Kultusminister. Seit Mai 2018 ist der Münchner Antisemitismus-Beauftrager der Staatsregierung. In der AZ spricht er über den AfD-Eklat im Bayerischen Landtag.

AZ: Herr Spaenle, am Mittwoch sorgte die AfD-Fraktion für einen Eklat bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nazi-Terrors im Bayerischen Landtag, als die Abgeordneten während der Rede von Charlotte Knobloch, der Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern und vor allem selbst Holocaust-Überlebenden, beinahe geschlossen den Saal verließ. Sie waren Augenzeuge - ihr Kommentar zur AfD?
LUDWIG SPAENLE: Die AfD verfolgt eine ganz bewusste geschichtspolitische Strategie. Es geht darum, bestehende Tabus zu brechen, Grenzen zu verschieben. Danach wird immer zurückgerudert - aber die Tabugrenze wird dabei immer verschoben.

Wo sehen Sie die Gründe?
Wir sehen das Ende des alten politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, ein Erstarken der Ränder. Wir haben zum Beispiel zum ersten Mal eine politische Gruppierung, die es geschafft hat, eine Brücke nach ganz rechtsaußen zu schlagen.

Jeder dritte EU-Bürger nimmt wachsenden Antisemitismus in seinem Land wahr

Eine neue wie erschreckende Eurobarometer-Umfrage der EU-Kommission zeigt, dass jeder dritte EU-Bürger wachsenden Antisemitismus in seinem Land wahrnimmt. Wie fühlt sich der bayerische Antisemitismus-Beauftragte angesichts der Größe seiner Aufgabe?
Die Aufgabe beinhaltet tatsächlich gleich eine vierfache Herausforderung: Zum einen ist da der Wunsch der jüdischen Gemeinschaft, nicht nur gegen etwas zu sein, sondern für etwas - nämlich für jüdisches Leben. Dann geht es natürlich um den Komplex des Antisemitismus in allen seinen widerwärtigen, janusköpfigen Erscheinungsformen. Er hat ja eine große historische Dimension ...

... aber auch eine aktuelle ...
... das stimmt. Die Intensität, so ist zumindest die öffentliche Wahrnehmung, wird eindeutig stärker. Da spielt das "Nirvana des Internets" eine wichtige Rolle. Es gibt auch ganz unterschiedliche Quellen des Antisemitismus, die unterschiedlich stark in Erscheinung treten. Ich war selbst vor Weihnachten in Brüssel, als die erste europaweite Umfrage unter Juden vorgestellt wurde. Da waren zwei Zahlen besonders bemerkenswert: 80 Prozent der antisemitischen Vorfälle werden erst gar nicht gemeldet - da geht es von Pöbeleien bis hin zu schwersten Straftaten. Und 30 Prozent der Juden denken zumindest darüber nach, Europa zu verlassen.

In neun Bundesländern gibt es Antisemitismus-Beauftragte

Vor diesem Hintergrund ist klar, dass die europäischen Staaten wie auch die deutschen Bundesländer unbedingt eigene Antisemitismus-Beauftragte benötigen. Wie viele gibt es bislang?
Neun Bundesländer haben eigene Beauftragte und der Bund natürlich auch. Das geht voran, das ist eine reine Frage der Zeit. Ich bin zuversichtlich, dass bis Jahresende jedes Bundesland zumindest einen Ansprechpartner bekommen wird.

Traurig, dass es solche Ombudsfrauen und -männer überhaupt braucht.
Das ist einerseits richtig. Was Bayern betrifft, so wundert es mich andererseits, dass wir erst jetzt einen Antisemitismus-Beauftragten bekommen haben. Es gab mindestens zwei historische Zeitpunkte, an denen sich die Schaffung eines solchen Amts angeboten hätte: Einmal in den 1980ern, als der Staatsvertrag mit den jüdischen Gemeinden geschlossen wurde. Zum zweiten Mal in den 1990ern, als man begonnen hat, die ganzen Gedenkstätten völlig neu aufzustellen. In Bayern haben wir auf meinen Wunsch hin - dem ist der Ministerpräsident auch nachgekommen - die Stelle weiter gefasst. Logischerweise gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben, aber auch für Erinnerungskultur und für geschichtliches Erbe.

"Umgang mit Jüdinnen und Juden ist Ausdruck des zivilisatorischen Charakters einer Gesellschaft"

Vor allem das geschichtliche Erbe reicht ja weit zurück.
In Deutschland lässt sich jüdisches Leben im übernächsten Jahr rund 1.700 Jahre zurückverfolgen, in München, glaube ich, 770 Jahre. Da kann man einem der bewussten Missverständnisse - ihr gehört nicht zu uns - gut begegnen. Auch wenn das ein dickes Brett ist.

Trotzdem sind Juden seit ewigen Zeiten und bis zur Gründung des Staates Israel vor 70 Jahren in allen Ländern stets in der Minderheit gewesen.
Seit dem Jahre 70 nach Christus, um es genau zu nehmen. Das ist die historische Dimension. Insofern ist der Umgang mit den Jüdinnen und Juden auch Ausdruck des zivilisatorischen Charakters einer Gesellschaft.

Leider ist Deutschland, ist Bayern weit davon entfernt, ein sicherer Hafen für Juden zu sein. Das sieht jeder, der einmal am Sankt-Jakobs-Platz vorbeigeht, wo Tag und Nacht vor der Synagoge ein Streifenwagen steht - stehen muss.
Stimmt, wir haben wieder ein Ansteigen antisemitischer Straftaten zu beobachten, genauso wie ein Ansteigen von Vorfällen unterhalb dieser Schwelle. Deshalb werden wir eine Meldestelle einrichten, um alle Fälle von Judenfeindlichkeit zu erfassen. Ich hoffe, wir sind Ende März soweit.

Was viele Menschen gar nicht wissen: Wie wenige Jüdinnen und Juden es in Deutschland überhaupt gibt. In den Gemeinden sind nicht einmal 100.000 Mitglieder gemeldet.
Insgesamt sind es wohl 150.000. In Bayern ist es ein gutes Promille - jeder tausendste Bayer ist Jude. 15.000 auf 13 Millionen, um es genau zu nehmen. Das Phänomen ist ja: Antisemitismus gibt es ohne Juden. Wir haben den rechtsradikalen Antisemitismus, den muslimisch geprägten, der an Virulenz zugenommen hat.

"Islamistisch geprägter Antisemitismus hat zugenommen"

Ihr Kollege Felix Klein, Antisemitismus-Beauftragter des Bundes, und Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, haben gerade vor einem deutlichen Anstieg des Antisemitismus unter türkischstämmigen Bürgern in Deutschland gewarnt. Sehen Sie das genauso?
Ich würde das weniger an der Nationalität festmachen, aber der islamistisch geprägte Antisemitismus hat zweifellos zugenommen, was auch mit der Entwicklung von 2015 zu tun hat. Deshalb müssen wir die Lehrer in den Schulen auch weiterbilden. Die müssen wissen, was zu tun ist, wenn ein junger muslimischer Schüler mit schlimmsten judenfeindlichen Äußerungen unterwegs ist. Darauf muss eine Lehrkraft reagieren können.

Angst vor Berliner Verhältnissen, wo es zuletzt ja vermehrt zu antisemitischen Vorfällen mit muslimischem Hintergrund gekommen ist?
Einer solcher Entwicklung müssen wir energisch entgegenwirken. Ein wichtiges Feld ist die Bildung. So muss etwa in den Lehrplänen nicht nur jüdisches Leben hierzulande, sondern auch das Israel-Bild deutlicher gezeigt werden.

Das Israel-Bild wird vor allem von den Medien erzeugt, und es ist relativ einseitig: der böse Aggressor Israel und die armen palästinensischen Opfer.
Wir haben ein sehr einseitiges Israel-Bild. Es gibt kein anderes Land auf der Welt, für das es dieses Wort gäbe: Israelkritik. Es gibt keine Australienkritik oder Japankritik. Das ist gespeist aus linkem Antisemitismus, der auch etwas mit Antijudaismus und Antizionismus zu tun hat. Natürlich ist die israelische Regierung zu kritisieren, so wie jede andere Regierung. Aber oft wird mit dieser Kritik eine fundamentale antiisraelische Haltung verbunden.

Eine letzte Frage zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust am Sonntag: Sind Sie zufrieden mit den Anstrengungen des Freistaats, um an dieses in der Menschheitsgeschichte einmalige Verbrechen zu erinnern?
Nein, zufrieden kann man nie sein. Deshalb habe ich jetzt eine Initiative ergriffen, die es bisher so weder im Bund noch in Europa gab. Es gibt eine internationale Definition von Antisemitismus, die 31 Staaten erarbeitet haben. Die wurde vom Bundestag angenommen, genauso von einigen Landtagen. Ich habe dies der Landtagspräsidentin vorgeschlagen und gehe jetzt noch weiter: Ich hab es dem Ministerpräsidenten für die Staatsregierung vorgeschlagen, ich bin an die Städte, Landkreise und Gemeinden herangetreten und ich möchte die gesamte Zivilgesellschaft - Gewerkschaften, Parteien, Kirchen, Sportverbände, Kulturträger - dazu bewegen, über das Thema Antisemitismus eine öffentliche Debatte zu führen. Das wäre der Versuch, einmal aktiv zu werden, anstatt nur immer zu reagieren.

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