Kultur

Geheimnisvoll

Evgeny Kissin mit Bach, Mozart, Chopin und Rachmaninow in der Isarphilharmonie


Evgeny Kissin, hier vor sieben Jahren in der Philharmonie im Gasteig.

Evgeny Kissin, hier vor sieben Jahren in der Philharmonie im Gasteig.

Von Michael Bastian Weiß

Wie man den Pianisten denn bislang so finde, fragt der junge Mann hinter dem Kritikerplatz, der wahrscheinlich Notizbuch und Bleistift bemerkt hat, zu Beginn der Pause. Nach der dritten und letzten Zugabe, die Evgeny Kissin in seinem aktuellen Programm spielt, möchte die Sitznachbarin gerne wissen, was das gerade noch einmal für ein Stück war (es war das Prélude cis-moll op. 3 Nr. 2 von Sergej Rachmaninow). Und noch beim Rausgehen aus der Isarphilharmonie kommt ein feiner Herr auf den Rezensenten zu und äußert freundlich, aber spürbar involviert, dass Kissin bei Bach doch eindeutig zu viel Pedal benutzt habe.

Ja, diese Ansicht kann man vertreten. In der Chromatischen Fantasie und Fuge d-Moll von Johann Sebastian Bach, die am Beginn seines Solo-Rezitals steht, verwischt Evgeny Kissin andeutungsweise ein paar der Tonleitern. Aber ist das nicht eine lässliche Sünde? Indem der Pianist die Möglichkeiten des modernen Konzertflügels nutzt, kann er vor allem den unerhört experimentellen Zug des Stücks verfolgen, wenn er etwa die Akkorde zu fast schon freitonalen Gebilden auftürmt, wie sie Arnold Schönberg 200 Jahre später schreiben wird.

Doch noch einmal zurück zu den netten Gesprächen mit unbekannten Personen. Es ist doch erstaunlich, dass gerade der Auftritt eines Pianisten, der für seine unnahbare Aura berühmt ist, so viele Kontakte innerhalb der Hörerschaft anregt. Sicher, Kissin ist mit den Jahren ein bisschen lockerer geworden, sein Ton hat an Wärme gewonnen, seine Perfektion wirkt nicht mehr ganz so einschüchternd. Das heißt aber nicht, dass er Zugeständnisse machen und die Sonate Nr. 9 D-Dur von Wolfgang Amadeus Mozart direkt mit dem Publikum kommunizieren lassen würde. Sie erscheint als in sich abgeschlossenes Kunstwerk, in kristallin purer Klanglichkeit, nicht als Ausdruck von Empfindungen, sondern klassisch unbetroffen, nicht persönlich gefärbt, sondern sachlich; doch stets mit dem geheimnisvollen Glanz, der Kissins Spiel immer umgibt.

Ein Kabinettstück für sich ist die inoffizielle Symphonie, die er aus fünf "Études tableaux" von Sergej Rachmaninow macht. Selbst in deren ausgreifendsten Passagen imitiert Kissin naheliegenderweise nie ein Orchester, schafft aber analog dazu eine geradezu verwirrende Unabhängigkeit der Stimmen. Nur bei Frédéric Chopin aber kann man Evgeny Kissin einmal als Ausdrucksmusiker erleben: In der Polonaise fis-moll op. 44 herrscht ab den ersten Tönen eine untergründige Alarmstimmung, die direkt aufs Zwerchfell geht, beunruhigende Signale häufen sich und explodieren in einem Schrei. Auf das Pedal zu achten, hat man da längst vergessen.