Kultur

Die Koppel im Reich der Fantasie

Bernd Rolings und Julia Weitbrechts haben eine Kulturgeschichte des Einhorns verfasst


Eine Figurenuhr (um 1600) mit Einhorn aus der Ausstellung "The Last Unicorn" im Museum im Prediger.

Eine Figurenuhr (um 1600) mit Einhorn aus der Ausstellung "The Last Unicorn" im Museum im Prediger.

Von Roberta De Righi

Kein Mensch wird abstreiten, dass es Einhörner gibt: Sie schweben durch Kinderzimmer und am Himmel über dem Oktoberfest ebenso wie über der LGBTQ+-Community und manchem Esoterik-Trip. Das Vieh ist dabei meist ein weißes Pferd mit Regenbogenschweif und elegant geschwungenem Horn, entzückend und entrückt.

Dass seine Koppel im Reich der Fantasie liegt, dürfte den meisten Unicorn-Fans allerdings klar sein. Das war nicht immer so: Seit der Antike suchten Theologen, Naturkundler und Quacksalber die Existenz des Tieres und die Heilkraft seines Horns zu beweisen. Die Erkenntnis, dass in den Wunderkammern erhaltene vermeintliche Einhörner in Wirklichkeit Zähne des Narwals sind, brachte erst die gar nicht mehr so frühe Neuzeit zutage.

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In der Figur "das Einhorn" trat bei der zweiten Folge der ProSieben-Show "The Masked Singer" Franziska van Almsick an.

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In freier Wildbahn findet man das Einhorn eher nicht, als computergeneriertes Fabelwesen dagegen häufig.

Der Altphilologe Bernd Roling und die Literaturwissenschaftlerin Julia Weitbrecht nahmen ihre eigene Einhorn-Begeisterung zum Anlass und machen das Fabeltier zum Gegenstand einer kulturhistorischen Betrachtung durch die Jahrtausende. Das Ergebnis ist eine weiträumig recherchierte, staunenswerte, launig geschriebene Abhandlung über ein schillerndes Wunsch-Wesen, das zu schön ist, um wahr zu sein. Und zu gut erfunden, um nicht damit Geschäfte zu machen.

Der Arzt und Geschichtsschreiber Ktesias von Knidos berichtete bereits im 5. vorchristlichen Jahrhundert von Kreaturen in Indien, deren Horn, wenn man daraus trinke, vor Vergiftungen schütze. Im Folgenden ähnelt die Gestalt mal einem Pferd, mal einem Nashorn. In der Bibel ist, wie Roling und Weitbrecht zählen, gar an acht Stellen die Rede von einem wilden Tier, dessen Hörner Heilkräfte besitzen. Übersetzungsprobleme führten zu Ungenauigkeit. Kirchenvater Hieronymus machte daraus in seiner griechischen Version ein Einhorn.

Im 2. Jahrhundert nach Christus beschreibt der im Mittelalter als Quelle benutzte Physiologus ein Wesen, das auch Handschriften der arabischen Welt bevölkert. Hier ist das Einhorn ziegengroß, schwer zu fangen - und es kommt die von biblischer Misogynie geschwängerte Pointe dazu: Nur eine "reine" Jungfrau könne das Biest zähmen. Damit ist ein Mythos begründet, der es zu einiger Popularität bringt. Es wird Symbol der Jungfräulichkeit, verweist auf Maria - und steht für Christus.

Doppelbödigkeit ist Programm: Es ist auch Teil der Jagd- und Liebessymbolik mittelalterlicher Literatur, in der die Jungfrau zum Köder, und das Einhorn zur Beute wird. Oder der Liebe ersehnende Mann zum Opfer schamlos Unschuld vorgaukelnder Frauen? Alles drin. Dass zudem noch der Opfertod Christi mitgemeint ist, wenn es blutig erlegt wird, hebt das recht weltliche und brutale Geschehen auf eine höhere Ebene.

Als eine beispielhafte Darstellung wird der Wandteppich-Zyklus im New Yorker The Cloisters angeführt. Die niederländischen Tapisserien der Zeit um 1500 gehören nicht nur zu den prächtigsten erhaltenen Einhorn-Bildern, sondern zeigen auch im Durchwirken von christlicher und weltlicher Symbolik die Komplexität des Motivs.

Auch materiell ist das Einhorn Legende. Woraus das Pulver, das lukrativ gehandelt wurde, tatsächlich bestand, konnte die längste Zeit niemand nachweisen. Dass Versuche, bei denen ein damit gefüttertes Versuchstier, dem zuvor Gift eingeflößt wurden war, fünf Stunden nach seinem unbehandelten Leidensgenossen starb, noch Ende des 17. Jahrhunderts als Beweis für Wirksamkeit galten, erstaunt nur, wenn man ausblendet, dass der Wille zum Placebo-Glauben zuletzt während der Pandemie die Wissenschaft mit dem Rücken an die Wand geschoben hat.

Umso mehr lacht man gerne mit, wenn Roling und Weitbrecht auf Sjóns Roman "Das Gleißen der Nacht" zurückgreifen: Darin brechen der dänische Gelehrte Ole Worm und der Isländer Jon Jaerdi Gudmundsson angesichts eines angeblichen Einhorns in schallendes Gelächter aus.

Den Narwalzahn erkennen die beiden Nordmänner natürlich auf Anhieb. Es handelt sich um eine fiktive Szene, aber Worm und Gudmundsson gab es wirklich. Doch selbst, als das Einhorn endlich als Meerestier enttarnt war, hielt sich die Wundermittel-Story des Horns noch erstaunlich lange.

Das Einhorn ist seither mehrfach wieder aufgetaucht, u.a. in Quedlinburg (als gefälschtes Urzeit-Skelett) und Südafrika.

Selbst den Hoax vom Mondeinhorn, das ein neues Teleskop 1835 angeblich erblickt hatte, waren die Leser der New York "Sun" gerne bereit zu glauben. Und so verweist die Geschichte des Einhorns auch auf die Filmrisse unserer Fake-News-Epoche: Nichts ist offenbar so robust wie alternative Wahrheiten.

Julia Weitbrecht und Bernd Roling: "Das Einhorn - Die Geschichte einer Faszination" (Hanser, 176 Seiten, 24 Euro)