Kultur

Der Wahnsinn, dieses Mädchen

Mehr Vermeer als derzeit in Amsterdam wird man nie mehr im Original zu sehen bekommen.Die Heimatstadt Delft kontert mit dem Lebensumfeld des Malers, Den Haag mit seinem Supermeisje


Blau, Gelb und ein bisschen Weiß genügen, um ans Mädchen mit dem Perlenohrring zu erinnern. Kunstfans auf der ganzen Welt haben umwerfende Ideen nach Den Haag geschickt: Marlon de Bruijne setzt auf ein lebendes Modell, Nanan Kang kommt mit einem Maiskolben und ein wenig Deko aus, und Liana Popa griff zu den farblich passenden Kleidungsstücken. Mehr auf @mygirlwithapearl

Blau, Gelb und ein bisschen Weiß genügen, um ans Mädchen mit dem Perlenohrring zu erinnern. Kunstfans auf der ganzen Welt haben umwerfende Ideen nach Den Haag geschickt: Marlon de Bruijne setzt auf ein lebendes Modell, Nanan Kang kommt mit einem Maiskolben und ein wenig Deko aus, und Liana Popa griff zu den farblich passenden Kleidungsstücken. Mehr auf @mygirlwithapearl

Von Christa Sigg

Völlig verrückt: Zwei Tage bevor die Ausstellung überhaupt losging, sei das Ticketsystem bereits zusammengebrochen, erzählt Quentin Buvelot. Der Chefkurator am Mauritshuis in Den Haag beobachtet genau, was in Amsterdam passiert. Schließlich ließ er "sein Mädchen" ins Rijksmuseum ziehen - zur größten, mittlerweile ausverkauften Vermeer-Schau aller Zeiten (bis 4. Juni). Und die profitiert nicht zuletzt von der unbekannten Schönen mit dem Perlenohrring (bis 31. März). Sie ist die Mona Lisa des Nordens, aber natürlich viel besser.


Warum das so ist? Gelb und Blau genügen, vielleicht noch ein Klecks Weiß dazwischen, und schon hat jeder das "Meisje" im Kopf. Instagramtauglicher geht's nicht. Dass das einstige "Mädchen mit dem Turban" in der Lage ist, mehr als 3500 Menschen zu animieren, ihre Interpretation dieser Ikone ans Mauritshuis zu schicken, hat man dort dann doch nicht erwartet.

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Echt jetzt, oder spielt das Gehirn verrückt? Mitten in der Nacht, an der Den Haager Molenstraat, taucht das Mädchen schon wieder auf. Zwischen Straßenlaternen und Mülltonnen.

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Vermeers "Malkunst" aus Wien durfte nicht nach Amsterdam reisen, im Delfter Prinsenhof sieht man sie dafür in größeren Dimensionen.

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Christa Sigg

"Die Vorschläge kamen aus der ganzen Welt, vor allem aber hat die Fantasie unsere kühnsten Vorstellungen übertroffen", sagt Boris de Munnick. Er begleitet "My Girl" medial, so lautet das Projekt, das zum ersten Mal junge Kunst in die königliche Sammlung gespült hat. Man hegt hier herausragende Rembrandts - die Anatomie des Dr. Tulp zum Beispiel - und den berühmten Distelfinken von Carel Fabritius, aber auch Paulus Potters Prachtbullen, erlesene Holbeins und van Dycks, feinste Stillleben oder Landschaften von Jacob van Ruisdael.


Und jetzt? Sieht man einige Besucher um Fassung ringen. Kein Vermeer! Stattdessen ein Bildschirm in einem 3-D-gedruckten Plastikrahmen, der wenigstens dem Original nachempfunden ist. Ziemlich trashig ist das auf den ersten Blick. Doch spätestens nach dem dritten "Porträt" macht sich Entspannung breit, und selbst Nancy, die eben noch völlig verzweifelte Kunstlehrerin aus Milwaukee, kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Da wird das Mädchen von etwa 1665 gerade durch gelbe und blaue Wollknäuel ersetzt. Nach ein paar Sekunden trägt ein Windhund den Turban, dann ein Bärtiger à la Conchita Wurst und sogar ein Maiskolben!

Die Milchmagd ist vom Insta-Girl lässig überholt worden

Dass die Popularität auch durch Scarlett Johansson und ihre Darstellung von Vermeers fiktiver Magd Griet, dem Modell, angeheizt wurde, hat man schnell vergessen. So irre sind die Girls, die auf Instagram viral gehen. Unten im Shop ist sowieso alles gelb und blau, dass einem fast schummerig wird. Koffer mit dem Mädchen, Schürzen, Puzzles, Socken mit angenähtem Plastikperlchen… Selbst die Kassenkräfte tragen eine teure Designerbrosche mit ihrem Antlitz - wertig muss es im Mauritshuis schon sein. Und auf dem Weg zum Hotel taucht die überdimensionale Kopie plötzlich an einer Hauswand auf. Was für eine Erscheinung!

Bis zur großen Vermeer-Ausstellung 1995/96 in der National Gallery in Washington und in Den Haag war die Milchmagd viel populärer. Damals hatte man aber den alten Firnis abgenommen, und die Farben begannen unfassbar zu leuchten. Der direkte Blick und der geöffnete Mund dieser Lolita taten ein Übriges. Gar nicht mehr nachvollziehbar ist allerdings der Preis, den das "Mädchen mit dem Ohrring" - vermutlich eine Silber- oder Glaskugel - 1881 bei einer Versteigerung einbrachte: lausige zwei Gulden. Dafür würde man heute nicht einmal mehr eine Kugel Eis bekommen.

In München hat man sich einen vergleichbaren Fauxpas geleistet. Nach dem Tod von Max I. Joseph zeigte sein an sich so kunstsinniger Sohn Ludwig I. keinerlei Interesse an Vermeers "Frau mit Waage". Und weil auch sonst niemand etwas mit ihr anfangen konnte, landete das Bild 1826 als Werk eines "unbekannten Malers" ganz unten auf der Veräußerungsliste und wurde genauso zum Spottpreis verscherbelt.


Johannes Vermeer war damals schon viel zu lange von der Bildfläche verschwunden. Zumal der mit 43 Jahren früh verstorbene Künstler keine 50 Gemälde hinterlassen hatte - aktuell werden ihm 37 zugeschrieben. Und der Geschmack ändert sich, so banal das klingen mag. Heute ist man von der schieren Perfektion der Milchmagd, der mit Briefen beschäftigten Frauen und besonders der "Malkunst" geplättet und kann so gar nicht nachvollziehen, was in den Köpfen der einstigen Betrachter vorging.

Immerhin hatte einer dann doch Augen im Kopf. Der französische Kunstkritiker Théophile Thoré war Mitte des 19. Jahrhunderts in Holland unterwegs, um dessen Kunst des Goldenen Zeitalters zu studieren. Die Qualität Vermeers, überhaupt die realistische Wiedergabe des Alltagslebens muss ihn so sehr begeistert haben, dass er mit drei euphorischen Aufsätzen viel für die Wiederentdeckung getan hat. Und weil Thoré bei seinen Recherchen nicht weiterkam, hat er den Maler 1866 in der Gazette des Beaux-Arts als "Sphinx von Delft" bezeichnet. Das gilt bis heute. Leider.

Zu gerne wüsste man, wo Vermeer gelernt hat, wie er mit 15 Kindern noch zum Malen gekommen ist, was ihn inspiriert hat. Das meiste wird man wohl nie erfahren. Aber welche Bilder dieser Künstler gekannt und wen er getroffen haben muss, welche Tapisserien, Kleider, Möbel oder Haushaltsgegenstände in Delft um 1650 üblich waren, ist im dortigen Prinsenhof-Museum minuziös zusammengestellt. Auch mit Werken der Kollegen Vermeers und originalen Quellen wie dem Inventar des Bäckers, bei dem die Familie offene Brotrechnungen mit drei Gemälden beglichen hat.

Tatsächlich kommt ein gewisses Vermeer-Feeling in den engen Gassen auf, die Stadtsilhouette bringt man mit seiner Ansicht von Delft irgendwie zusammen. Der Turm der Nieuwe Kerk dürfte noch ein bisschen schiefer geworden sein. Die Malerei des Meisters gibt es freilich nur in Form von gut gemachten Kopien im Vermeer-Centrum. Eine fabelhafte Alternative dazu sind die in der Oude Kerk ausgestellten Arbeiten der Fotokünstlerin Caroline Sikkenk. Sie hat die wichtigsten Gemälde in die heutige Zeit übertragen. Da schaut die Briefleserin im blauen Hosenanzug aufs Smartphone, und das Mädchen mit dem Ohrring wechselt die Hautfarbe. Delft und Den Haag mischen beim Vermeer-Hype also kräftig mit.

Den Haags Instagram-Aktion auf @mygirlwithapearl; In Delft: "Vermeers Delft" im Prinsenhofmuseum; "Pearls of Light" von Caroline Sikkenk in der Oude Kerk