Kultur

Der Einzelne und die Masse

Die Konzerte des Gewandhausorchesters und ein Wagner-Ballett bei den Osterfestspielen in Salzburg


Christan Gerhaher, Julia Kleiter, Andris Nelsons und das Gewandhausorchester bei der Aufführung des Brahms-Requiems.

Christan Gerhaher, Julia Kleiter, Andris Nelsons und das Gewandhausorchester bei der Aufführung des Brahms-Requiems.

Von Robert Braunmüller

Es ist bizarr, dass man ausgerechnet zu den konservativ ausgerichteten Osterfestspielen nach Salzburg fahren muss, um die an sich naheliegende Verbindung einer Bruckner-Symphonie mit (sehr gemäßigt) Neuer Musik hören zu können. Andris Nelsons kombinierte im Großen Festspielhaus die Siebte mit "Der Zorn Gottes" von Sofia Gubaidulina: ein blockhafte, blechlastig und auftrumpfendes Stück, das Bruckners Klangsprache ins Niederschmetternde steigert und in die Gegenwart holt.


Nelsons mag - wie sein "Tannhäuser" zur Eröffnung der Osterfestspiele gezeigt hat - seine Probleme mit Wagner haben. Für Bruckner entwickelte er mit dem Leipziger Gewandhausorchester eine schlüssige Steigerungs-Dramaturgie. Im Kopfsatz betonte er das lyrische Moment der Siebten. Nach dem zweiten Satz Adagio steigerte er das Tempo, zugleich verschärfte sich der anfangs eher breite Klang momentweise ins Brutale. Damit wurde der bei dieser Symphonie stets drohende Spannungsabfall nach dem Adagio glücklich verhindert.

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Emanuel Gats Ballett "Träume" nach Wagners Wesendonck-Liedern.

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Eine Szene aus Emanuel Gats Wagner-Ballett "Träume" in der Felsenreitschule.

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Andris Nelsons.

Ähnlich schlüssig gelang Nelsons auch das "Deutsche Requiem" im traditionellen Chorkonzert der Osterfestspiele mit dem ebenfalls fast traditionellen Salzburg-Auftritt des Chors des Bayerischen Rundfunks. Der sang gewohnt mit subtiler Wärme, Nelsons fächerte den Klang der Streichergruppen farbig auf, die Bläser konzentrierten sich auf Trennschärfe. Zur Erreichung letzten Glücks hätten die Chor-Fugen etwas mehr interpretierenden Enthusiasmus vertragen können.


Das Ereignis dieser Aufführung waren jedoch die Solisten. Julia Kleiter brachte "Ihr habt nun Traurigkeit" schlicht, natürlich und ohne jeden Drücker auf den Punkt. Die Bariton-Soli lassen sich mit eherner Propheten-Stimme sehr wirkungsvoll interpretieren. Aber Christian Gerhaher ist nun einmal kein Interpret der einfachen und direkten Wege. In "Herr, lehre mich doch" betonte er eine resignative Einsicht in die Vergänglichkeit, in der Passage aus dem Korinther-Brief schien er fast über die Einsicht zu erschrecken, dass "wir alle verwandelt werden; Und dasselbe plötzlich, in einem Augenblick".

Solche Zweifel schaden bei einem Werk, das so Schwieriges wie Trauer als geradezu mühelosen Prozess darstellt, tatsächlich nicht. Gerhaher integriert außerdem seine sehr bewusst gesetzte, hochreflektierte Deutung mit souveräner Technik so geschickt in die Aufführung, dass sie nicht als Fremdkörper erscheint, sondern als Bereicherung des Werks: Das ist die hohe Schule der Interpretation.

Das dritte Konzert enttäuschte. Wer Felix Mendelssohn Bartholdys respektvolles Arrangement von Johann Sebastian Bachs dritter Orchestersuite auf das Programm setzt, muss dem Hörer klar machen, warum er das tut: Es klang wie eine mulmige Aufführung auf modernen Instrumenten.

Das Cellokonzert des derzeit bei deutschen Orchestern und ihren Managern sehr beliebten Thierry Escaich zwang Gautier Capuçon zum Auftrumpfen, was diesem noblen Solisten nicht liegt. Und dann folgte noch eine sehr unenthusiastische und sehr durchschnittliche Aufführung von Robert Schumanns Symphonie Nr. 2, in der es Nelsons nicht gelang, die vom Komponisten gestellten Probleme auch nur halbwegs aufzulösen.


Das Gewandhausorchester war an diesem Finale unschuldig: Es präsentierte sich in allen Abenden in Bestform. Der Klang ist etwas schärfer als bei den Dresdner Kollegen, die von 2013 bis 2022 die Osterfestspiele bestritten, die Präzision noch ein paar Grade höher. Aber dem Programm mit lauter Traditionsstücken und Traditionskomponisten fehlte der herausfordernde Kontrapunkt. Und es war wohl auch keine gute Idee, auf den üblichen Gastdirigenten zu verzichten und den Gewandhauskapellmeister alles dirigieren zu lassen.

Bis zur Rückkehr der Berliner Philharmoniker in drei Jahren bestreiten wechselnde Orchester die Osterfestspiele. Nächstes Jahr ist es die Accademia di Santa Cecilia unter Antonio Pappano. Eine neue Farbe ereignete sich am Rand: Nikolaus Bachler engagierte den aus Israel stammenden und in Frankreich wirkenden Choreografen Emanuel Gat samt Company für ein Tanztheater nach Wagners Wesendonck-Liedern in der Felsenreitschule. Das darf man als Bereicherung betrachten.

Gat destillierte aus dem Wortschwall von Wagners Schrift "Die Kunst und die Revolution" frappierend heutige Einzelsätze zum Verhältnis von Individuum, Kunst und Gesellschaft. 14 hochindividuell geführte Menschen übersetzten dies in eine hochsubjektive Körpersprache. Der zweite Teil versetzt diese Konstellation dann in eine durch skulpturenhafte Kostüme (Thomas Bradley, Marie-Pierre Collies) zurück ins 19. Jahrhundert - aber nur als Andeutung. Die eher fremdelnden Elemente Wagner, Text und Tanz fanden hier mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit zusammen.

Über Musik vom Tonband mag man geteilter Meinung bleiben - hier ermöglichte sie die Wiederbegegnung mit einer weniger bekannten Aufnahme, deren Qualität allenfalls Kennern und Fans bewusst sein dürfte: Sie entstand 1998 mit Julia Varady und dem DSO Berlin unter Dietrich Fischer-Dieskau. Gat ist es gelungen, Texte, Lieder und aus Wagners Musik abgeleitete elektronische Klängen auf einer leeren Bühne in eine aufregende, alle billigen Antworten verweigernde Reflexion über das Verhältnis des Einzelnen zum Kollektiv zu verwandeln. Eine Spur, die sich weiter zu verfolgen lohnt.

Bis Ostermontag werden die Konzerte wiederholt. Infos zum Programm des nächsten Jahres unter osterfestspiele.at