Bayern

Die gute Nachricht: LMU-Professor gelingt Durchbruch beim Entschlüsseln von Keilschrift

Ein Münchner Professor entschlüsselt Keilschrift - eine wissenschaftliche Nische. Mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz hat er nun unzählige Texte lesbar gemacht.


Die Zeichen wurden mit Griffeln in den Ton gedrückt. Über die Jahrtausende sind viele Tafeln zerbrochen. Um sie zu entschlüsseln, müssen Altorientalisten die Teile passend zusammensetzen. Einen Teil dieser Aufgabe übernimmt dank Enrique Jiménez nun eine KI.

Die Zeichen wurden mit Griffeln in den Ton gedrückt. Über die Jahrtausende sind viele Tafeln zerbrochen. Um sie zu entschlüsseln, müssen Altorientalisten die Teile passend zusammensetzen. Einen Teil dieser Aufgabe übernimmt dank Enrique Jiménez nun eine KI.

Von Carmen Merckenschlager

München - Enrique Jiménez (37) ist begeistert von seiner Arbeit. Fast jeden Tag entdeckt er etwas Neues. Er arbeitet am Institut für Assyriologie an der LMU - beschäftigt sich also mit Sprachen und Kulturen des Alten Orient. Wie er da noch etwas Neues entdecken kann?

Er ist einer von rund 300 Menschen auf der Welt, die Keilschrift lesen können. Seit 2018 arbeitet er mit anderen Wissenschaftlern an einem Projekt, um weitere Schrifttafeln zu entziffern.

Durch eine digitale Datenbank und Künstliche Intelligenz (KI) konnte das Team in kurzer Zeit rund 300 000 Textzeilen und Gesamttexte aus Bruchstücken von Tontafeln entziffern. Das System Electronic Babylonian Literature (eBL) stellte der Professor am Freitag einem Fachpublikum vor. Für Philologen eine tolle Nachricht, handelt es sich doch um einen wissenschaftlichen Durchbruch.

Enrique Jiménez

Enrique Jiménez

Ein Interview über eine wissenschaftliche Nische, die spannender zu sein scheint, als man glaubt.

AZ: Herr Jiménez, sie sind Altorientalist. Was bedeutet das eigentlich?

Enrique Jiménez: Wir untersuchen das alte Mesopotamien. Das heißt, den alten Irak und so weiter - die Wiege der Zivilisation. Dort wurde zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte die Schrift entdeckt.

Warum haben Sie sich entschieden, Altorientalist zu werden?

Mich haben immer schon die alten Schriften interessiert. Ich wollte immer etwas noch Älteres finden. Aber älter wie jetzt geht es wohl nicht mehr. (lacht) Es ist ein sehr spannendes Fach, weil es erst rund 100 bis 150 Jahre alt ist. Das heißt, es ist immer noch in der Entwicklung. Wir sind jetzt an der Stelle, wo die klassische Philologie im 16. Jahrhundert war. Wir entdecken immer wieder neue Texte, die niemand seitdem gelesen hat. Wir lesen sie zunächst oder finden wieder neue Stücke unserer Lieblingstexte. Es ist wirklich ein sehr spannendes Fach.

Wo finden Sie neue Texte? Viele tauchen wahrscheinlich bei Ausgrabungen auf, oder?

Genau. Aber ich bin ja ein Philologe und kein Archäologe. Und sehr viele der Tafeln wurden schon ausgegraben, die nun einfach in Museen liegen. Es gibt aber nur so wenig Altorientalisten auf der Welt, dass wir gar nicht die Kapazitäten haben, sie alle zu lesen. Es gibt im Grunde Tausende ungelesene Tafeln. Die größte Sammlung findet sich im British Museum in London, im Irakischen Nationalmuseum die zweitgrößte. Mit diesen beiden Sammlungen arbeiten wir bei meinem Projekt zusammen.

Ihr Projekt arbeitet mit Künstlicher Intelligenz. Wie kommen KI und Keilschrift zusammen?

Wir haben einen Algorithmus aus der Bio-Informatik angepasst, um die Keilschrift zu erfassen.

Aus der Bio-Informatik?

Die Probleme, die wir haben, sind eigentlich ähnlich wie in der Biologie. Wir haben Fragmente von Sequenzen, die wir nicht richtig einordnen können, weil es zu viele Varianten gibt. Aber der Algorithmus kann die Varianten ignorieren, oder sagen wir: in Betracht ziehen. So finden sich nach und nach zusammenhängende Fragmente.

Es soll sich um die größte Veröffentlichung von Texten handeln, die es bis jetzt gegeben hat. Tatsächlich?

Also in der Altorientalistik? (lacht). Ja, da auf jeden Fall. Am Freitag veröffentlichen wir 20 000 Keilschrifttafeln. Das ist eine riesige Menge. Wenn ein Altorientalist sehr fleißig ist und sehr viel arbeitet, wird er im Laufe seines Lebens vielleicht 200 Tafeln publizieren. Dass wir jetzt plötzlich 20 000 Stück veröffentlichen, das bringt das Fach enorm voran.

Gab es unter den 20 000 Keilschrifttafeln einige besondere Überraschungen bei den Texten?

Sehr, sehr viele. Wie gesagt, in diesem Fachgebiet ist fast alles neu, was wir entdecken. Wobei wir auch schon viel wissen. Es ist immer eine Überraschung, wenn Fachfremde entdecken, dass Akkadisch - die Hauptsprache im alten Mesopotamien - die zweitbest belegte Sprache aus der Antike ist. Nach dem Griechischen. Das heißt, wir haben mehr Dokumente auf Akkadisch geschrieben als auf Lateinisch. Ein riesiger Textkorpus, aber es gibt eben nur sehr wenige Altorientalisten auf der Welt, also nur sehr wenige Menschen, die diesen lesen können.

Was heißt sehr wenige? Kennen Sie sich alle untereinander?

Wir sind nur um die 200 bis 300 Leute, die die Keilschrift lesen können. Mehr gibt es nicht. Was eine Schande ist. Die erste Sprache, die wir entdeckt haben... da sollte es mehr Leute geben.

Wie könnte man den Menschen für Keilschrift begeistern?

Viele haben wohl die Vorstellung, dass unser Fachgebiet sehr langweilig ist. Dabei ist es so aufregend. Ständig wird etwas Neues entdeckt. Den einen Tag lernen wir etwas, am nächsten Tag ist es durch eine neue Entdeckung überholt. Die Texte, die wir schon haben, wachsen ständig und nehmen langsam Gestalt an. Wer eine genaue Vorstellung hat, was das Fach für Möglichkeiten bietet: Für den ist es fast unvermeidbar, Altorientalist zu werden.

Seit Freitag sind die neuen Textteile zugänglich, oder?

Wir haben die Erkenntnisse am Freitag gemeinsam mit Wissenschaftlern aus aller Welt bei einem Workshop vorgestellt.

Wenn Sie nicht gerade alte Keilschrifttafeln entziffern, was lesen Sie dann?

Gerade lese ich etwas von Ryszard Kapuscinski. Der Journalist verbrachte viel Zeit in Afrika. Ansonsten lese ich sehr gerne Reiseberichte. Und Romane. Das kommt schon auch vor.

.................

Wer sich für die Texte aus der antiken Weltliteratur interessiert, findet die Arbeit von Jiménez und seinem Team im Internet unter www.ebl.lmu.de