"Am Übergang von der Erde zum Himmel"

Wie ein blinder Bergsteiger den Mount Everest bestieg


"Ab jetzt zählt's, ob du heimkommst oder nicht": Andy Holzer beim Abstieg vom Mount Everest.

"Ab jetzt zählt's, ob du heimkommst oder nicht": Andy Holzer beim Abstieg vom Mount Everest.

Von Romana Bauer

Der von Geburt an blinde Bergsteiger Andy Holzer schaffte es 2017 auf den Gipfel des Mount Everest. Im Interview spricht er über die Symbolkraft dieser Mission und Schicksalsschläge, die sie begleiteten.

AZ: Herr Holzer, Sie sind von Geburt an blind und waren 2017 auf dem Gipfel des Mount Everest. Ein Lebenstraum?
ANDY HOLZER: Vor fünf Jahren hätte ich noch gesagt: So wichtig ist das gar nicht. Mit dem Everest ist es wie mit dem Lamborghini: Es sind Dinge, bei denen man keine Möglichkeiten sieht, sie erreichen zu können. Wenn aber plötzlich 400.000 Euro auf dem Tisch liegen, fängt man schon an, mal nachzuschauen, welche Lamborghini-Modelle es gibt. So durfte ich den Everest als erster Mensch ohne Zuhilfenahme von Licht über die Nordseite besteigen, und jetzt ist er ein absoluter Höhepunkt in meinem Leben, vor allem symbolisch. Ich kann den Menschen damit etwas greifbar Positives vermitteln, dass ein blinder Mensch so etwas leisten kann, sie ermutigen, ihre Träume zu verfolgen, auch wenn sie unmöglich erscheinen. Denn jeder Mensch hat seinen Everest.

"Jeder Mensch hat seinen Everest": Andy Holzer beim Aufstieg.

"Jeder Mensch hat seinen Everest": Andy Holzer beim Aufstieg.

Wann wurde das Unmögliche für Sie doch möglich?
Wolfgang Klocker, der ein erfahrener Bergsteiger ist, kam 2013 nach einem Vortrag von mir zu mir und fragte mit feuchten Augen, ob er seine Kraft in meine Geschichte einbringen darf. Er hat mir damit einen Schlüssel zum Everest gegeben. Ich hatte mit ihm jemanden, der weiß, was es heißt, über die Grenze hinauszugehen. Er hat Klemens Bichler in unsere Seilschaft mitgebracht. Ich habe mir damals gewünscht, dass das nicht nur ein Projekt für den Everest ist, sondern eines fürs Leben. Und das ist uns gelungen. Wir sind wie eine Familie.

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Als Blinder liegt es nicht so nahe, Bergsteiger zu werden.
Wenn man am Fuße der Lienzer Dolomiten groß wird, schon. Das Klettern ist mir von der Natur ans Herz gelegt worden. Da wird es langsamer, leiser, du bewegst dich auf allen Vieren, es gibt kein Stolpern. Aber erst mit neun sind meine Eltern auf einen ernsthaften Berg mit mir losgezogen, mit 21 habe ich mit Seil, Haken und Kletterpartner angefangen.

Haben Ihre Eltern versucht Sie zu bremsen?
Sie waren wahnsinnig empathisch. Mit sechs wollte ich nicht wegen meiner Blindheit weg von meinen Freunden, meinem Dorf, meinen Kletterbäumen. Meine Eltern haben mir das Leben von Sehenden beigebracht. Ich habe keine Blindenschrift oder Umgang mit Blindenstock gelernt, war stattdessen mit Hammer und Nagel unterwegs, habe Baumhütten gebaut und habe beim Dachdecken geholfen. Ich habe gelernt, wie man sich auch ohne Augenlicht in gefährlichem Gelände bewegt.

Wie beim Bergsteigen.
Das Wichtigste ist Kommunikation. Als Blinder musst du dich ständig und absolut ehrlich mit deinen Begleitern abstimmen. Bei der Gipfeletappe beim Everest haben wir aber in zwölf Stunden keine zehn Sätze gesprochen, weil keiner dafür Energie hatte. Das läuft nonverbal über Kleinigkeiten: das Steigeisen, die Atmung, ein kurzes Antippen.

Ein perfektes Zusammenspiel?
Ja, mit dem Grenzbeamten in Kathmandu konnte zum Beispiel nur ich verhandeln, weil ich als Einziger gut genug Englisch konnte. (lacht) Und über 7000 Meter nimmt die Geschwindigkeit ab, alles wird langsamer, ruhiger. In meinem Buch "Mein Everest - blind nach ganz oben" schreibe ich: "Das ist die Gerechtigkeit. Da oben sind die unterschiedlichen Voraussetzungen und Möglichkeiten der Teammitglieder dann ausgeglichen."

Zweifelten Sie auch mal?
Nach dem ersten Versuch 2014, der wegen einer Eislawine scheiterte, hatte ich schon 150.000 Euro in den Sand gesetzt. Dann bist du wieder acht Wochen von deiner Familie und deinem Beruf weg - eine Katastrophe. 2015 mussten wir wegen einem Erdbeben wieder umkehren. Da habe ich den Everest sinnbildlich in den Keller gestellt. Ich wollte nicht mehr. 2016 habe ich andere Sachen gemacht, war in der Antarktis und in Madagaskar. Und dann kam wieder diese verdammte Sehnsucht. Der kleine Andy in mir, der vielleicht sechs Jahre alt und sehr emotional ist, hat mir auf den Tisch geklopft und gesagt: "Jetzt müssen wir mal wieder was Gscheits machen."

Wie war der Moment dann 2017 auf dem Everest-Gipfel?
Ich habe den Gedanken daran bis 100 Meter unterm Gipfel nicht zugelassen. Auf 8750 Höhenmetern habe ich den Wolfgang umarmt, wir hatten alle Tränen in den Augen. Dann habe ich gesagt: "Jetzt ist bitte Schluss, Männer, wir müssen noch heimkommen." Von da an haben wir nur noch rational gearbeitet, standen völlig teilnahmslos am Gipfel. Man hat richtig gespürt, dass wir am weitest entfernten Punkt dieses Planeten waren und wie fernab das Leben dort ist. Es war so bockig, zugig, krausig und schräg, du hast nicht sitzen und nicht stehen können. Ich dachte nur: "Ab jetzt zählt's, ob du heimkommst oder nicht." So richtige Freude kam erst Wochen später zuhause auf.

Hat Sie Ihre Tour zur Spitze des Planeten näher an Gott gebracht?
Ich bin mir bewusst, dass meine Instanz nicht die letzte ist und es da noch andere gibt. 2014 sind bei dem Unglück 16 Sherpas gestorben, 2015 gab es bei dem Erdbeben über 9000 Tote, und 2017 ist während meines Aufstiegs mein eigener Vater zu Hause verstorben. Der Everest war immer die Brücke zwischen Leben und Tod. Du hast den Tod da oben einfach gespürt und dass der Everest rein physikalisch der Übergang von der Erde zum Himmel ist. Ich habe noch nie den Sonnenaufgang so erlebt wie dort, diese Strahlung und Wärme, diesen Grat zwischen Licht und Schatten, Tag und Nacht.

Der Tod Ihres Vaters war sicher ein schwieriger Moment.
Absolut. Als mir meine Sabine das am Satellitentelefon mitteilte, habe ich zum ersten Mal in meinem Leben keinen Weg gesehen, war komplett blind. Meine Mutter hat mir dann am Telefon gesagt: "Wenn du jetzt heimgehst, stirbt auch der Weg, auf den wir dich geschickt haben. Der verläuft doch auf die vertikale Spitze dieses Planeten. Und dein Vater steigt jetzt mit dir auf den Gipfel." Im Nachhinein könnte ich mir keinen besseren Ort vorstellen, um von ihm Abschied zu nehmen und kann seinen Tod nun positiv mit meinem Gipfelgang am Mount Everest verknüpfen.