Pichlmaier unterwegs

Festival-Tagebuch: Pichlmaier bei Rock im Park


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Immer ganz nah dran an den Stars: Selfiespezialist Florian Pichlmaier (links) mit Fever333-Sänger Jason Aalon Butler.

Ein Festival-Tagebuch zu Rock im Park? Braucht's das? Keine Ahnung, wir schmieren trotzdem drei Tage lang das Internet voll, damit auch jeder Daheimgebliebene mitbekommt, was so los ist in Nürnberg das Wochenende über. Könntet ihr euch zwar im Stream auf RTL anschauen, dort aber ohne Hintergrundinfos und vereinzelte Flachwitze von einem Mittdreißiger samt Rückenproblemen und erblich bedingtem Haarausfall. Prädikat: kann man schon machen.

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Cleopatrick dürfen am Freitag als erste ran. Kanadischer Rock mit schön kratzigen Gitarren, wie in der Garage aufgenommen.

Freitag, 11.35 Uhr: 298 Euro kostete das Ticket für Rock im Park heuer in der letzten Preisstufe - rund 70 Euro mehr als im Vorjahr. Für mein erstes Rock im Park 2006 hab ich 130 Euro abgedrückt - in richtigem Geld also fast 260 Mark. Das Internet fand schon damals: "Happiger Preis." Mir ist der Ticketpreis auch 17 Jahre später noch Wurst, weil (und das jetzt bitte nicht meinen Eltern stecken): Mama und Papa haben nie den Dauerauftrag für mein Taschengeld eingestellt, zu meinem üppigen Redakteursgehalt (kleiner Scherz) schwemmts also monatlich 20 Euro auf mein Konto. Wie sagt Papas bester Freund immer: "I mechat nimma arm sei miassn!"

12.19 Uhr: Beim letzten Eintrag hab ich irgendwie den Faden verloren, da wollte ich eigentlich hin: Um etwa 30 Prozent sind die Ticketpreise deutscher Festivals durchschnittlich gestiegen, schätzt etwa Stephan Benn vom Kulturverband Liveinitiative NRW. "Die Veranstalter sehen sich derzeit mit einer Reihe zusätzlicher Kosten konfrontiert", sagte er kürzlich der Deutschen Presse-Agentur: gestiegene Löhne für Techniker, Sicherheitsdienst und Gastronomiepersonal. Dazu kommen laut Bernd Schweinar vom Verband für Popkultur in Bayern steigende Kosten für Energie und Technik sowie höhere Gagen. Statt mit 75.000 Besuchern rechnen die Veranstalter bei Rock im Park deshalb vorab bei dieser Ausgabe mit nur 60.000 Feiernden. Eine lokale Tageszeitung beruft sich vor ein paar Wochen auf ein internes Dokument und vermutet bis zu 20.000 Gäste weniger als 2022. Offizielle Zahlen teilen die Verantwortlichen am Sonntag beim Pressegespräch mit. Immerhin findet das Event statt, 2023 längst nicht mehr selbstverständlich: Das Download-Festival am Hockenheimring mit Slipknot und Parkway Drive haben dessen Veranstalter erst vor wenigen Tagen abgesagt.

12.43 Uhr: Das Gelände füllt sich langsam, alle haben sich Sonnencreme in den Nacken geschmiert und stellen sich gerade das erste Vollbier ins Gesicht. Die Sonne knallt schon ziemlich runter, die meisten haben deshalb Kopfbedeckungen auf. Einer sogar einen wunderschönen weißen Hut. Hat bei uns aufm Land draußen früher auch Mal einer versucht - der Spitzname, der ihm jahrelang geblieben ist: "Huaddepp." Weitere lustige Kosenamen: Unser Torwart beim Fußball heißt "Bengo", weil er rote Haare hat und quasi vom Kopf her brennt wie ein Leuchtfeuer oder ein dickes Streichholz.

12.52 Uhr: Cleopatrick scheppern als erste Band in das Wochenende - nur mit Gitarre, Schlagzeug und Gesang. Mehr braucht das Duo aus Kanada nicht. Klassische Band-Konstellation als Trio samt Bass? Fehlanzeige. Die halten es lieber wie ich, falls ich Mal in sexueller Hinsicht nach einem Dreier gefragt werden sollte: Nein danke. Wenn ich zwei Menschen gleichzeitig enttäuschen will, rede ich einfach mit meinen Eltern über mein Leben.

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Drei Tage lang ist Florian Pichlmaier als Reporter bei Rock im Park unterwegs. 

13.32 Uhr: 72 Bands spielen heuer auf den Zwillingsfestivals Rock am Ring (am Nürburgring) und Rock im Park. Im vergangenen Jahr waren es eine Handvoll weniger, kurzfristige Absagen (auch aufgrund der noch unsicheren Corona-Lage) hatten das Festival ausgedünnt. Turnstile etwa holen ihren Auftritt 2023 einfach nach. Zumindest eine Absage gab es auch in diesem Jahr: Five Finger Death Punch sprangen vor wenigen Wochen krankheitsbedingt ab. Der namhafte Ersatz: Bullet for my Valentine. Weniger amerikanischer Patriotismus, dafür mehr walisisches... Keine Ahnung, wofür Wales bekannt ist. Anmerkung an die Redaktion: Bitte mal Google bemühen, auf keinen Fall diesen Platzhalter stehenlassen.

13.50 Uhr: Hab mich jetzt in den Pressebereich verkrümelt. Hier oben ist es schön kühl, ich sitze am offenen Fenster, der Wind streift durch mein volles Haar. Unten vor der Mandora-Stage schwitzt das gemeine Fußvolk bei Bury Tomorrow - und die englische Metalcore-Band hantiert auch noch mit Feuer rum. Der Boden ist so furztrocken, dass es vorne im Circlepit staubt ohne Ende. Möchte auf keinen Fall tauschen. Aber jetzt fangen auf der großen Bühne Nothing But Thieves zu spielen an - und in meinen Ohren dröhnt bloß noch ein Mischmasch aus beiden Bands. Frechheit eigentlich, hab's mir anders vorgestellt in meinem Elfenbeinturm.

14.50 Uhr: Bei Hot Water Music schnellt der Altersschnitt nach oben. Wer vor der Bühne den Punkrock der Band um Chuck Ragan abfeiert, hat tendenziell einen volleren Bart als der Durchschnittsbesucher an diesem Wochenende, dafür lichteres Deckhaar und mindestens den Ansatz einer Plauze. Auch Ragan hat den Lifestyle adaptiert und in den vergangenen Jahren ein paar Kilo auf seine Hüften geschaufelt. Passt aber eh besser zu seiner whiskeygetränkten Reibeisenstimme. Ich fühle mich mittendrin fast geborgen, wie in einem Safespace für alte, weiße Männer. Auch weil der Typ vor mir das gleiche Problem hat wie ich: Schweiß in dem Wulst zwischen Hinterkopf und Rückenspeck, dort wo bei anderen Menschen der Hals ist.

16.53 Uhr: 2005 war alles besser: Markus Söder (als Finanzminister), der FC Bayern (mit Mehmet Scholl, Jens Jeremies und Alexander Zickler), meine Blutwerte. Moment, alles außer Incubus bei Rock im Park. Die waren damals gut und sind es jetzt immer noch - zugegeben, vor allem wegen der alten Songs, riesigem Nostalgiefaktor und Sänger Brandon Boyd. Auf Live-Videos hört es sich manchmal so an, als hätte er seine Stimme kaputtgesungen. Gerade klingt er aber fast so schön, wie er ausschaut. Der Typ ist mittlerweile 47, hat immer noch wunderbar lange Haare mit mittlerweile grauen Strähnen. Wenn ich da zum Vergleich meinen Chef anschaue - der ist nur ein paar Jahre älter als Boyd, wirkt aber wie 60 (Grüße!). Und plötzlich steht Boyd da auch noch oben ohne, mir wird ganz warm ums Herz. Könnte aber auch eine beginnende Herzrhythmusstörung sein, sagt meine Pulsuhr.

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Bei Tenacious D ist es vor der Utopia Stage gut voll.

18.26 Uhr: Bei Tenacious D ist es vor der Utopia-Stage gut voll. Apropos gut voll... Gefühlt sind die Menschen hier durchaus wegen der Musik. Wir sind früher um die Zeit schon vor dem Wodkamelonestand rumgelegen. The times, they are a-changin', hat Lothar Matthäus immer gesagt.

18.40 Uhr: Da jammere ich noch über zu wenig Exzess und schon hebt das Publikum einen Typen hoch, der seinen nackten Arsch in die Kamera hält. Endlich. Lol, schaut wirklich lustig aus.

18.48 Uhr: Jack Black singt das zweitschönste Cover von Wicked Game überhaupt. Für immer unerreichbar: Die Version von Casting-Show-Legende Martin Kesici.

19.50 Uhr: Hach…One-Hit-Wonder Papa Roach spielen gerade mit dezenter Verspätung eins ihrer anderen Lieder in die Nürnberger Abendsonne. Das Leben könnte so schön sein, wenn nicht zwischendurch immer das Leben passieren würde. Ein lieber Kollege - ach, was sag ich, ein guter Freund - liegt momentan im Krankenhaus und hat eine verdammt beschissene Zeit. Liebe Grüße an dieser Stelle und ein herzliches „**** ****“.

20.10 Uhr: Und weil Papa Roach eben nur diesen einen Hit haben, covern sie "Firestarter" von Prodigy. Das macht nicht nur mir Spaß, sondern auch allen anderen an der vollgepackten Pandora-Stage. Gefangen in einer Zeitschleife, als wären wir alle wieder 17. Ich linse verstohlen in alle Richtungen, damit Mama mich nicht beim Rauchen erwischt. Dabei habe ich nicht mal eine Zigarette in der Hand.

20.18 Uhr: Vor mir steht einer mit Fußballtrikot und Strohhut. Hinten auf seinem Leiberl: FC Biercelona. Klassiker!

20.55 Uhr: Nach dem Auftritt von KIZ strömen die Fans aus dem Bereich vor der großen Bühne, weg von Kings of Leon offensichtlich. Kennt Ihr das? Wenn man nur lang genug auf das Gewurl von einem Ameisenhaufen oder auf einen Fluss starrt, versteht man plötzlich, wie das Leben funktioniert und was für ein kleiner Pups man selbst ist. So gehts mir jetzt kurz vor dem radiotauglichen Mainstream-Rock der Followill-Brüder, der mir existenzielle Fragen in den Kopf schraubt: Wer bin ich? Warum bin ich überhaupt? Warum gibt es nicht einfach nichts, das wäre doch die viel einfachere Variante? Und warum riecht es hier komisch? „Use somebody“ ist jedenfalls ein astreiner Hit. Freu ich mich drauf.

21.02 Uhr: Noch während die Menzingers spielen, fluten Gäste von draußen die dritte Bühne an der Halle. Viele davon, um auf die Gourmetklos vor der Sporthalle zu gehen. Deutschland in a Nutshell: Alle bilden brav eine schnurgerade Schlange, in der bestimmt auch einige warten, die einfach an einer Schlange anstehen wollen. Eine Frau von der Security schießt ums Eck, leitet die Leute in der Schlange hektisch um - sonst lungern die Wartenden mitten im Fluchtweg rum. Fühle mich schlagartig sicherer.

21.22 Uhr: Nutze den Leerlauf vor Kings of Leon, um mich um den Check-In im Hotel zu kümmern. Ja richtig, ich bin entschieden zu alt für Camping. Als ich am Vormittag in mein Zimmer irgendwo am Plärrer will, ist es noch nicht fertig. Nach 23 Uhr ist aber keiner mehr an der Rezeption. Die Lösung, wie mir eine nette Frau am Telefon sagt: Ich kann nach Mitternacht an einem Terminal einchecken, ohne mit jemandem reden zu müssen. Technische Fortschritte überall! Nicht einmal vor Dixiklos machen sie halt: Ich meide die Dinger auf Festivals seit Jahren, war aber heute mal in einem drin. Da gibt's jetzt sogar separate Urinale. An sich tolle Sache, hatte aber schon jemand einen Haufen reingesetzt.

22.05 Uhr: Kings of Leon habens nicht leicht als Headliner: Schon vorab war die Band vielen für den Slot nicht gut genug, mitten im Set ist immer noch Luft in beiden Wellenbrechern, bei Tenacious D war gefühlt mehr los. Dabei ist das, was die Followill-Brüder und ihr Followill-Cousin abliefern, in erster Linie richtig schöne Musik. Klar, ihre Hits sind 15 Jahre her, aber Frontmann Caleb singt ungefähr so schön, wie sich Brandon Boyds nackter Oberkörper anfühlen muss (siehe Incubus-Eintrag vom Nachmittag). Überall schmusen Paare, neben mir kuscheln vier bärtige Hipster. Werd sie mal dezent von der Seite anstupsen.

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Kings of Leon

22.23 Uhr: Musik bewegt ja Menschen. So wie in: Wenn irgendwo Kings of Leon spielen, gehe ich woanders hin. Machen hier einige, der Rest freut sich über die ausgeklügelte Licht- und Videoshow für jeden einzelnen Song und vor allem über die alten Hits vom 2008er Album.

23.04 Uhr: Mit Mantar steht ein weiteres Duo auf der Bühne - weil ich den Gag mit dem Dreier aber früher schon verbraten hab, muss ich mir was Neues überlegen. Die Band aus Bremen bolzt mit ihrem staubtrockenen Metal alles weg wie Dieter Eilts früher. Dabei stehen beziehungsweise sitzen sich die beiden auf der Bühne gegenüber. Ein bisschen erinnert mich das an die Ehe meiner Eltern: Einer schreit dem anderen ins Gesicht, der andere spielt Schlagzeug. Nur dass von meinen Eltern niemand Schlagzeug spielt.

23.25 Uhr: Was für ein Schlachtfest. Mantar sind so hart, dass ich zwischendurch ganz ängstlich die Hand meines Nachbarn packe. Kommt nur mäßig an. Vorne sitzt mindestens der beste Drummer am heutigen Tag und der Typ an der Gitarre schreit das Tor zur Hölle auf. Besser wirds nicht: Hab im Eintrag vorher einen Scherz auf Kosten meiner Eltern gemacht, schau gleich noch bei Evanescence vorbei, lass HIM-Sänger Ville Valo dann aber links liegen. Verabschiede mich stattdessen für heute mit den Worten, die ich sonst daheim vorm Schlafengehen auch immer sag: Rosi, ich liebe dich, und mein Knie tut weh.

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Früher hätts sowas nicht gegeben: Festivalfrühstück vom Hotelbuffet.

Samstag, 8.23 Uhr: Festivalfrühstück früher: Havana Rum mit Sprite und Limette, darin aufgelöst eine Aspirin. Festivalfrühstück heute: Orangensaft an Banane und Weizenbrötchen, dazu eine Magnesiumtablette (gegen die Verspannungen) und Grapefruitkernextrakt (für den nervösen Magen). Pointe? Kommt keine!

10.17 Uhr: Hotelprobleme, die ich auf dem Campingplatz nicht hätte: Die arbeiten hier mit Zahlencodes statt Zugangskarten. Und diese sechs Ziffern sind gerade drauf und dran, meinen Pin für die Bankkarte und den halben Jugendschutzcode für Sky aus meinem Gehirn zu kegeln. Deshalb hier kurz eine Sicherungskopie. Türcode: 938104. EC-Pin: 3281. Jugendschutz: 1111. Danke fürs Aufbewahren, liebes Internet.

11.37 Uhr: Eigentlich wollte ich am Vormittag gemütlich über den Zeltplatz flanieren, weil "a bissel was geht immer", wusste schon Monaco Franze. Aber hinten in den Wadeln zwickts wirklich ganz arg, deshalb spar ich mir das. Außerdem bewahre ich mir so die Hoffnung, dass die letzte Generation ein anderes Umweltbewusstsein hat als wir früher. Ich würde gern sagen, den Klimawandel hatte damals noch keiner auf dem Schirm, aber wir waren einfach ignorante Vollpfosten. Beim Zusammenpacken am Montagmorgen hab ich in den 00er Jahren Mal gefragt: "Hey, wer nimmt eigentlich unser Zelt mit nach Hause?" Mein Kumpel hat von hinten nur geschrien "Hä wieso?". Wir drehen uns zu ihm um und er stülpt gerade das aufgespannte Zelt in den Dutzendteich, während zehn Meter weiter irgendwelche Halbstarken ein Dixiklo anzünden und hinterherschieben. Bis zu 300 Tonnen Müll bleiben von Rock im Park jedes Jahr übrig. Wegen Deppen wie uns.

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Saubere Schlangen am Samstagmittag.

12.55 Uhr: Während es auf dem Gelände am Samstag langsam los geht, warten draußen in langen, natürlich sauberen Schlangen die Besucher. Alle sind entspannt, egal ob Securitys oder Gäste. "Kann ich hier durch?", fragt ein Rollstuhlfahrer. "Nein, absolutes Fahrverbot", sagt der Mann am Einlass. Die Antwort: "Okay, dann geh ich eben."

13.12 Uhr: Boysetsfire schmirgeln am Samstagmittag als erste Band über die große Bühne. Sänger Nathan Gray - im schrillen, pinken Netzkleid samt Elton-John-Gedächtnisbrille - hat zum Jahreswechsel die Debatte um den angekündigten RiP/RaR-Auftritt der texanischen Heavy-Metal-Größen Pantera angestoßen: Deren Frontmann Phil Anselmo hatte 2016 auf einer Bühne den Hitlergruß gezeigt und "White Power" gerufen, gilt nicht erst seitdem bei seinen Kritikern als Rassist und kompletter Vollheinz. Als sich auch die Toten Hosen für den Ausschluss der Band stark machen, wird der Druck auf die Veranstalter zu groß: Sie schmeißen Pantera aus dem Lineup. Danke Boysetsfire.

13.26 Uhr: Apropos Rassismus - worüber sich bei der ganzen Bierseligkeit kaum jemand Gedanken macht: Am Dutzendteich hat das Nazi-Regime in den 30er Jahren seine Reichsparteitage abgehalten. Ein paar Hundert Meter Luftlinie von der Rock-im-Park-Hauptbühne liefert das Dokumentationszentrum für sechs Euro Eintritt Infos zu den Gräueltaten der Nationalsozialisten. Puh, schwere Kost. Lieber den Gedanken schnell ertränken in einem knappen (sehr knappen!) halben Liter Warsteiner für 50 Cent mehr. 13 Euro für die Maß!

13.31 Uhr: Boysetsfire sind so bekannt, dass sie schon Festivals vor 60.000 Leuten gespielt haben, Einzelkonzerte in 5.000er-Hallen - und trotzdem sind die Amerikaner eine Band in Teilzeit, Gitarrist Joshua Latshaw arbeitet auf dem Bau, Bassist Robert Ehrenbrand unter anderem als Yogalehrer. "Wir sind eine Familie, die zusammenkommt, wenn es sich richtig anfühlt. Und das sind wir ein Leben lang", erzählt mir der Münchener Ehrenbrand 2018 in einem Interview. Und gerade fühlt es sich richtig an. Live immer gut. Jetzt hab ich glatt wieder vergessen, das ganze mit einer gelungenen Pointe abzuschließen - zum 30. Mal in Folge.

13.47 Uhr: Kurzer Nachtrag. Beim Hergehen zwei Typen hinter mir: "Zefix, des Rüscherl is so warm, des bring i gar ned owe." Darauf der andere: "Werst schaun, unser Bier is grod so warm." Hab direkt väterliche Gefühle. Wird ein harter Tag, Buam. Durchhalten!

14.12 Uhr: Sum41 ziehen richtig Leute. In Summe wesentlich mehr als 41 Menschen, in den Wellenbrechern stehen die Besucher dicht an dicht. Wie viele sind das? 25.000? 850? Kanns nicht einschätzen, könnte beides sein. Corona-Demonstranten würden sagen: über 200.000. 

14.17 Uhr: "Everybodys got their problems" singen Sum41 von der Bühne zu mir rüber. Gute Band, die vor wenigen Tagen angekündigt hat, sich aufzulösen. Bestimmt wollen auch deshalb so viele dabei sein. Was sich nicht einfach auflöst: Mein Heißhunger auf was Fettiges. Ich stelle mich an eine Schlange, in der es nach Fleisch überbacken mit Käse riecht. Ist eh alles recht preiswert hier: Döner für neun Euro. Okay, der Cheeseburger für 8,90 Euro ist vielleicht bissl drüber, andererseits ist das laut Speisekarte ein Megacheeseburger, der nur optisch und von der Menge her daherkommt wie ein normaler Cheeseburger.

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Sum41 locken schon am frühen Nachmittag die Besucher auf das Gelände.

14.52 Uhr: Okay, ziehe meine Schätzung von vorher zurück. Sind wohl doch 200.000 bei Sum41. Aber im Ernst: Passt zur Meldung des Veranstalters, dass mehr Besucher als ursprünglich erwartet dabei sind. Am Freitag wohl 70.000 Menschen. Gute Taktik auch von den Organisatoren: Mit Bands, auf die sich jeder einigen kann, die Besucher früh vor die Bühne locken, weg von der Bierbong und vorgemischtem Rüscherl am Zeltplatz - und die Leute dann mit üblen Preisen ins Verderben stürzen. Tipp vom Profi: Sparfüchse und Freunde des Longdrinks kaufen sich ihre Mische im Liter-Pitcher für einen schmalen 30,50-Euro-Schein.

15.01 Uhr: Zwischendurch Schunkeln die Fans mit, als würden vorne nicht bloß irgendwelche kanadischen Pop-Punks stehen, sondern Andreas Gabalier himself. Hulapalu!

15.23 Uhr: Nach der Premiere 2022 gibt es heuer zum zweiten Mal kein Bargeld am Festivalgelände. Für Verschwörungstheoretiker ein Albtraum, für mich recht praktisch: Innerhalb von drei Minuten ist mein Chip am Armband über die App registriert und aufgeladen. Dauert also zwar wesentlich länger als Sex, ist aber immer noch richtig schnell. Am Bierstand ist es dann bloß ein kurzes Plopp und die Nummer ist durch. Scheinen sich die meisten schon dran gewöhnt zu haben, die Schlangen an den Ladestationen sind kürzer als vergangenes Jahr.

15.29 Uhr: Hand aufs Herz: Hier riechts manchmal nach Marihuana. Bin selbst ein bisschen schockiert und kenne den Geruch auch nur von früher von entfernten Bekannten, die bestimmt mittlerweile alle im Gefängnis hocken. Hätte echt gedacht, die Besucher hier wären zufrieden mit bisschen Saufisaufi. Ja doch, ist eindeutig Kiffe. Wo ist die Security-Frau von Freitag, wenn man sie braucht?

15.59 Uhr: Auch NOFX spielen gerade ihre letzten großen Festivalshows in Deutschland. Die Band um Sänger und Bassist Fat Mike hört nach vierzig Jahren auf. Nachtrag: Nächstes Jahr kommen sie noch für eigene Shows nach Deutschland, das Konzert bei Rock im Park ist trotzdem eine riesige Abschiedsparty. Tipp für die Zeit danach: Das autobiografische Buch "NOFX: The Hepatitis Bathtub and other Stories". Das ist genau so unterhaltsam wie die Liveshows der Band. Gerade fragen sie das Publikum ab: Wer ist über 50? Wer über 40? Und dann: Wer hat Kinder? Die Leute jubeln. "You are all a fuckin bunch of idiots", sagt Fat Mike. NOFX sind, was dieses Festival-Tagebuch gern wäre: witzig.

18.35 Uhr: Puh, ewig schon nix mehr hier reingeschrieben. Vor lauter Spaß glatt vergessen. Falls noch wer mitliest: Die Schlangen an den Ladestationen für das Cashless-System sind inzwischen doch nervig lang, ein lackes und warmes Orangenlimo kostet 9,50 Euro mit Pfand und auf der Wiese zwischen den großen Bühnen hat vorher ein Pärchen richtig heftig rumgemacht. Also so, das Leute kurz stehengeblieben sind. Hab geschrien: "Nehmts eich a Zimmer", aber bin mir ziemlich sicher, dass der Ratschlag schon seit einigen Jahren nicht mehr "cool" an sich ist.

18.50 Uhr: Tatsächlich cool, und das nicht so gewollt wie dieses Festival-Tagebuch, sondern total charmant quasi im Vorbeigehen: Turnstile. Die haben 2021 das beste Hardcore-Album der vergangenen Jahre veröffentlicht und das Genre ein Stück weit in die öffentliche Wahrnehmung gebracht. Die sind quasi das, was Tempo für die Taschentuch-Branche waren. dezenter Gamechanger. So ganz wohl fühlt sich Sänger Brandan Yates zumindest bei den Ansagen zwischen den Songs nicht. Dafür fragt er sauoft nach, ob's auch wirklich allen gut geht. Megasüß. Und während der Songs ist er dann doch eine ziemliche Rampensau. Wunderbares Konzert, bei dem sich die Band bestimmt neue Freunde erspielt hat - auch wenn der Platz am späten Nachmittag auf der großen Bühne noch ein bisschen zu viel ist.

19.04 Uhr: Wenn Rock im Park Bands ankündigt oder den Spielplan raushaut, ist erstmal standesgemäß keiner so richtig zufrieden. Headliner: zu klein, zu wenig relevant, nicht Metallica! Alle anderen Bands: kennt keiner, mag keiner, immer noch kein Metallica! Spielplan: die sind zu früh dran, die zu spät, fast alle zu gleichzeitig und wo ist eigentlich Metallica? Überhaupt: "Es heißt ROCK im Park, liebe Veranstalter!" Schon 2006 bei Bushido granteln viele, heutzutage nörgeln sie wegen Apache 207 und Finch einfach direkt in den luftleeren Raum der Facebook-Kommentarspalten. Dabei komme ich wunderbar durch das Wochenende mit einer Rockband nach der anderen. Und wenn ich mir dann doch Mal einen Rapper anschauen will, macht der plötzlich keinen Rap mehr: Machine Gun Kelly hatte ich noch als solchen abgespeichert, weil der sowas früher gemacht hat. Seine jüngsten beiden Alben hat Colson Baker mit Travis Barker, dem Schlagzeuger von Blink 182, aufgenommen. Und das hört man.

19.29 Uhr: Machine Gun Kelly klingt nach Blink, nach Poppunk, nach frühen 2000ern, nach dem Soundtrack zu American Pie. Nach damals, als ich 16 und meine größte Sorge war, dass Mama beim Abholen von der Zeltparty des Sportvereins merkt, dass ich nicht "Aaaach, nur zwei Radler" getrunken, sondern mich durch die komplette Rüscherl-Karte in Narrhalla-Mischung (ein Teil Schnaps, ein Teil Cola) gefräst habe. Mein Fazit am nächsten Tag: Saugut, Papa und Mama haben meinen Atomrausch eh nicht bemerkt. Tatsächlich hatte aber zumindest Mama eine leise Ahnung: Ich hab in der Mikrowelle noch einen Tee warm gemacht - nur Tasse plus Teebeutel, kein Wasser. Mama stand daneben, hat den Kopf geschüttelt. Ich hab die Tasse noch halb ausgetrunken und bin dann ins Bett. Gute alte Zeiten. Also irgendwie so klingt jedenfalls Machine Gun Kelly. Lasst die Finger vom Alkohol.

20.05 Uhr: Gerade den Sänger von Steel Panther getroffen, die vorher noch auf der zweiten Bühne gespielt haben. Bin ihm hinterher gelaufen wie so ein Fanboy und hab ein Selfie gemacht. Hab mich währenddessen schon dezent geschämt, wollts aber dann durchziehen. Bin jetzt nämlich nicht der große Selfietyp, meine Freundin muss mich immer zwingen und dann zieh ich trotzdem eine ziemliche Lätschn, sagt sie. Aber im Zuge einer umfassenden Berichterstattung gebe ich mich durchaus für sowas her. Eine Lätschn gezogen haben auch einige Zuhörer bei Steel Panther. Denn: Die machen 80er-Jahre-Hair-Metal wie Motley Crue, samt Spandexhosen und Perücken schaut das auf der Bühne erstmal nach Waynes World aus. Das ganze Sex-Drugs-and-Rocknroll-Gedöns packen sie in einen einstündigen Comedyauftritt voller flacher Witze, alles sehr überspitzt und erkennbare Satire. Fanden längst nicht alle gut, obwohl der Gitarrist das musikalisch richtig eingeordnet hat: "We're one of the fifty best Heavy-Metal-Bands - at this festival." Außerdem gab's einen riesigen aufblasbaren Penis im Publikum und alle haben gelacht. 

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Unser Autor mit Steel-Panther-Sänger Michael Starr (l.).

20.16 Uhr: Bei Architects geht über der Bühne gerade die Sonne unter, deshalb seh ich von hinten kaum etwas. Frechheit, bei 300 Euro Ticketpreis, die ich nicht bezahlt hab, weil Presseakkreditierung. Aber ich brauch was zum Granteln, in mir kommt der Landwirt zum Vorschein: Wenns regnet, so wie vergangenes Jahr, find ich das furchtbar doof. Wenn mir aber die Sonne ins Gesicht scheint, ist's irgendwie auch suboptimal. Der andere Bauer hat immer die größeren Kartoffeln. Und überhaupt: Diese furchtbare Düngeverordnung!

20.39 Uhr: Idee für ein Trinkspiel: Immer, wenn du auf dem Gelände jemanden laufen siehst, der zu den Ständen der Freien Wähler und der Jungen Union gehört, die im Rücken der Hauptbühne aufgestellt sind, musst du einen Schnaps trinken. Erkennt man sofort, die fallen auf.

21.25 Uhr: Gerade spielen die Toten Hosen: 1. Die sind ein Selbstläufer. 2. Hab dabei Sabrina getroffen, eine alte Bekannte. Unsere Leben haben sich vor vielleicht zehn Jahren bei einem Tinderdate dezent touchiert. Auf Rock im Park sehen wir uns zum ersten Mal wieder. Bestandsaufnahme: Damals war sie 21, ich 24, also drei Jahre Unterschied - jetzt ist sie gefühlt 27, ich 45. Ein Riss im Raum-Zeit-Kontinuum? Nein, bloß McDonald's. Ich hol mir was zu essen.

22.02 Uhr: Bullet For My Valentine haben in den vergangenen Jahren ordentlich aufgemörtelt, sind mit neuem Drummer und zusätzlichem Schreihals am Bass besser als je zuvor. Leider kommt das im hinteren Drittel nicht immer glasklar an. Eher so wie Instruktionen meiner Mama früher: "Räum gefälligst Mal dein Zimmer auf" oder "Iss einen Apfel". Hab ich auch nur gedämpft wahrgenommen.

22.05 Uhr: Bullet trotzdem wie Hubert Aiwanger an einem niederbayerischen Wirtshaus-Stammtisch: Ernten viel Zuspruch.

22.19 Uhr: Zwei Dinge hier brennen: Die Bühne (kontrolliert) und meine Fußsohlen (unkontrolliert). Ersteres hat mein Nebenmann mit viel Glück drauf. Der hält seit bald einer Stunde ohne Absetzen sein Handy hoch und filmt und flucht und schimpft, weil's wahrscheinlich auch bei ihm brennt. Arme wie Frontladerschaufeln.

23.10 Uhr: Geheimtipp in der Halle: Carpenter Brut ist ein französischer Künstler, der Synthesizer aus 80er-Jahre-Horrorfilmen mit Rock und Metal mischt. Passt perfekt zusammen. Trotzdem: Die spinnen, die Franzosen. Ein Fan ist so glücklich, dass er mich ungefragt in den Arm nimmt. Ich wehre mich erst, kann mich dann aber doch in die Umarmung hineinfallen lassen und in seinen starken Armen versinken. Dann speibt neben uns einer und macht den Moment kaputt. Zwei Minuten später kommen emsige Mitarbeiter und spülen mit Wassereimern alles weg. Apropos emsig: die Security-Frau von Freitag hat mich gerade zurechtgewiesen: Hier bitte nicht stehen, weil Fluchtweg. Runder Abschluss für diesen Samstag. Ich schau noch zu Bring Me The Horizon und dann Nachtinacht.

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Pressearbeit

Sonntag, 13.12 Uhr: Bin heute spät dran, hab aber schon vieles erledigt: gefrühstückt, irgendwas Rotes von meinen Schuhen geschrubbt (hoffentlich Ketchup), den Zeitungsbericht über das Festival für die Montagsausgabe geschrieben (das ist hier echt kein Spaß, bin richtig am Buckeln), hab mich im VIP-Shuttle zum Festivalgelände kutschieren lassen, vorbei an schwitzenden und am dritten Tag angemessen derangierten Kleinhäuslern vom Campingplatz. 

13.32 Uhr: Vorher erneut am eigenen Leib erfahren, warum Hotels gegenüber der Campingvariante schon auch Nachteile haben: Stehe unter der Dusche, schäume mein Brusthaar sorgfältig gegen Spliss ein - plötzlich geht das Licht aus, draußen fällt die Zimmertür ins Schloss. Ich schlittere zur Badtür, ziehe und ziehe. Abgesperrt, denke ich - und bereite mich im Kopf auf einen Faustkampf gegen drei bis vier maskierte Raubmörder ein. Versuche meine Muskeln anzuspannen, habe aber schon seit 2015 keine mehr. Völlig überraschend öffnet die Badtür nach außen, finde dort keine Angreifer. Ich rekonstruiere den Tathergang: War die Reinigungskraft, die schon die Zimmerkarte aus dem Schlitz gezogen und nicht ordentlich zurückgesteckt hat. Hmm, wenn ich's jetzt nochmal les: In meinem Kopf klang die Geschichte besser.

13.51 Uhr: Die Briten von Bring Me The Horizon haben Samstagnacht ihre Bewerbung als künftiger Headliner abgegeben. Nicht in schriftlicher Form, dafür hat's zu oft gebrannt auf der Bühne, das Papier hätte bloß Feuer gefangen - aber mit einem Auftritt, der fast übergelaufen ist vor Krach und Lärm und Geschrei und Gastauftritten von anderen Künstlern, vor Feuerfontänen und Videoanimationen und mehrstöckigen Bühnenaufbauten. Muss man natürlich mögen, gerade die poppig-klebrigen Lieder der Metalband. Können ihre LinkedIn-Profile trotzdem jetzt getrost löschen: Oli Sykes und seine Band.

14.01 Uhr: Bei Bring Me The Horizon allerdings der einzige Moment des Samstags, an dem es kurz Mal unübersichtlich wird: Nach den Toten Hosen drücken so viele Menschen rüber zur zweiten Bühne, dass die Securities mit Absperrband die Wege umleiten. Wer nach vorne will, schlüpft also nicht wie tagsüber zwischen den verschiedenen Bauzaun-Barrieren durch, sondern muss erst parallel zur Bühne dran vorbei, bevor sie oder er oder wer auch immer nach vorne abbiegen kann. Keine große Sache eigentlich, vielleicht fünf Minuten Umweg. Fanden aber trotzdem viele ganz furchtbar: Riesenscheißdreck, Oberfrechheit, untragbar. Kann ja wohl nicht sein, dass man plötzlich nicht mehr seinen eigenen persönlichen Lieblingsweg gehen kann, der zehn Meter kürzer ist. Kann's nachfühlen.

15.15 Uhr: Vier schwarze Menschen, eine davon Jüdin, kommen zu Rock im Park - was sich nach einem Witz auf dünnem Eis anhört, ist der vielleicht beste Auftritt des Wochenendes. Schon zum zweiten Song turnt Sänger Jason Aalon Butler von Fever 333 über das Publikum vor der großen Bühne, danach predigt er fast: über People of Color, über die Rechte von Frauen. Die Band hat eine Mission - und die nehmen sie ernst. So ernst, das die Bassistin Tränen in den Augen hat, als sie die Faust in Luft streckt und ihren Davidstern in die Kamera hält. Das sind die emotionalen Momente in einer Show, die es sonst vor Energie fast zerreißt: Die Band fetzt über die Bühne, springt, tanzt... und das Publikum kann gar nicht anders und macht mit. Frontsau Butler hüpft zum letzten Song in eine Gondel des Riesenrads am anderen Ende des Bühnengeländes - und singt dort fertig. Das Publikum frisst der Band da längst aus der Hand. Erfolg: unausweichlich. Wenn die eben erst frisch zusammengewürfelte Band nicht an ihren politischen Ambitionen zerbricht. Ist ja Rage against the Machine auch schon passiert.

15.16 Uhr: Beim Selfie drückt Jason Butler seinen durchgeschwitzten Körper an meinen. Endlich Körperkontakt. Ich will ihm gerade sagen, dass ich seine alte Band letlive besser fand, da klatscht er mich ab: "Thank you, Brother." Ich bin verwirrt. Muss ich was wissen, Mama? Hast du einen 37-jährigen Sohn in Amerika, der besser ausschaut als ich und auch noch Erfolg im Beruf hat?

16.45 Uhr: Bei Brutus stehe ich zum einzigen Mal an diesem Wochenende ganz bewusst vor einer Band mit einer Sängerin. Stefanie Mannaerts drischt wie wild auf ihrem Schlagzeug herum und wütet und singt und schreit sich durch das Set der drei Belgier. Die Halle ist voller als sonst an diesem Wochenende. Die Veranstalter des Festivals haben sich nach der Kritik aus dem vergangenen Jahr bemüht, mehr Frauen auf die Bühnen zu holen. Arch Enemy, Evanescence, Spiritbox, Halestorm, Jinjer - diese Künstlerinnen bekomme ich zumindest im Vorbeigehen mit. Das Problem liegt also heuer eindeutig bei mir, nicht bei den Organisatoren. Die meisten Konzerte, auf die ich sonst so gehe, sind Nudelsalat. Dabei ist das Angebot offensichtlich da, ich nehme es bloß nicht wahr. Ob das so ist, weil ich bei meinen Großeltern noch gesehen habe, dass die Frau für den Haushalt zuständig ist und der Mann eine Zigarre raucht? Oder weil mein Papa erst seit fünfzehn Jahren weiß, wie man eine Spülmaschine aufmacht? Weil das Bewusstsein dafür erst wachsen muss und der Weg aus dem Patriarchat ein weiter ist? Ist mein Problem mangelndes Wissen? Ich weiß es nicht. "Die sieht ähnlich ansehnlich aus wie die Sängerin von Arch Enemy", sagt im Pressebereich ein Fotograf über Tetjana Schmajljuk von Jinjer. Fazit: Da muss noch einiges optimiert werden, bei uns Männern.

17.01 Uhr: Eilmeldung: Glückwunsch an dieser Stelle an die Jungs von der FVgg Gammelsdorf, die im Relegationsspiel mit einem Sieg gegen SG Eichenfeld-Freising gerade den Verbleib in der Kreisklasse gesichert haben. Alle Ehre Nick, sauber eineglunzt. Amateur-Fußball, an allen Rock-im-Park-freien Wochenenden die drittschönste Nebensache der Welt.

17.18 Uhr: Vor lauter Freude über die FVgg und Brutus glatt den Einsatz von Limp Bizkit verpasst. Die meisten anderen sind schon da, das wird doch recht eng am Abend bei Foo Fighters. Fred Durst heute mit Overall und Perücke so wie mein Papa, wenn er samstags rasenmäht: uninspiriert bis gelangweilt. Trotzdem beides gut, weil jeder mitsingt und auch der Rasen englisch kurz schöner ist und nicht so viele Insekten drin rumlungern.

17.37 Uhr: Okay, jetzt haben Limp Bizkit mich auch noch abgeholt: Covern einfach "Killing in the Name" von Rage Against The Machine. Muss mich trotzdem hinten kurz hinsetzen, weil mein Bandscheibe zwischen L5 und S1 gerade ganz leise mit einem "Fffffffffft" aufgegeben hat. Und dann machen Limp Bizkit mit ihrem Gassenhauer "Behind blue eyes" wieder alles kaputt. Verordnet Dr. Fred Durst mir ernsthaft eine Therapie mit Gegenschmerz?

18.27 Uhr: Habe heute eine alte Klassenkameradin getroffen. 15 Jahre ist es her, seit wir in Moosburg unser Abitur gemacht haben. Oder in Kilogramm auf meinen Hüften: 20. Wir tauschen uns aus drüber, wer schon wie viele Kinder in diese kaputte Welt geschubst hat und wer wo sein Häuschen in den nächsten 30 Jahren abbezahlt. Alle voll auf Kurs im Hamsterrad. Bin beruhigt und kann mir unser Jubiläums-Klassentreffen im Sommer eigentlich sparen.

19.30 Uhr: Startformation auf der großen Bühne also heute Abend: Limp Bizkit, Rise Against, Foo Fighters - zusammengefasst sind die Bandmitglieder 752 Jahre gelebte Rockgeschichte. Wenn der FC Bayern mit seiner Startaufstellung auf so viel Lebenserfahrung kommen will, muss er so spielen: Jean-Marie Pfaff, Hans-Georg Schwarzenbeck, Franz Roth, Franz Beckenbauer, Willi Knauer, Karl-Heinz Rummenigge, Lothar Matthäus, Hans Pflügler, Franz Bachl, Mitchell Weiser, Tim Borowski. Nur für Kenner! Wie die Band, die ich mir statt Rise Against gerade in der Halle angeschaut hab: Touche Amore.

20.06 Uhr: Weil ich eh grad am Rechnen bin: 1500 Euro hätten mich alten Sparfuchs die Konzerte vom Wochenende gekostet, wenn ich sie einzeln besucht hätte. Dreimal Hausgeld gespart, scheiß Inflation. Derweil an der Utopia Stage, alle wollen die Foo Fighters sehen, deshalb kaum Bewegung. Um beim FC Bayern zu bleiben: wie zum Ende der zurückliegenden Saison.

20.53 Uhr: Die Veranstalter kennen sich mit Zahlen offensichtlich so gut aus wie mein fünfjähriger Sohn. Der hat letztens aufm Flohmarkt den Preis für ein Spielzeugauto verhandelt. Der Trödler: "Acht Euro." Mein Sohn: "Ich hab nur neun." Laut offiziellen Zahlen waren am Freitag 70.000 auf dem Festival und damit das Gelände fast voll. Heute ist das Gedränge aber so groß, dass ich neben meinem Nebenmann stehen bleibe - obwohl er offensichtlich noch das Unterhemd von Freitag trägt.

21.03 Uhr: Gerade schlurfen ein paar ältere Herren auf die Bühne und klampfen drauf los. Was nach Alibi-AH-Fußballtraining am Freitagabend ausschaut und im besten Fall im Wirtshaus endet, nennt sich wohl Foo Fighters. Sänger Dave Grohl hat mit einer Kapelle namens Nirvana schon Mal vergeblich versucht, im Musikbusiness Fuß zu fassen. Am Schlagzeug sitzt ein gewisser Josh Freese, der bisher für kleinen Szene-Bands wie Guns N' Roses, Nine Inch Nails oder Sting getrommelt hat. Weil sonst grad nix los ist auf dem Festivalgelände, schauen überraschend viele Menschen zu. Manche klatschen sogar.

21.33 Uhr: Weiß jetzt, was meine Freundin immer meint: Neben mir steht ein Typ, der genau so fad schaut wie ich offensichtlich immer. "All my Life"? Er hat die Arme verschränkt. "The Pretender"? Er verzieht keine Miene. Während alle anderen schon so laut singen, dass Dave Grohl bettelt, auch noch mitmachen zu dürfen. Ich schau nach rechts, der Kerl ist wie mein Spiegelbild mit vollem Haar. Sogar sein Jeanshemd hab ich auch daheim in Schrank hängen.

21.42 Uhr: Die Konzerte der Foo Fighters am Ring und im Park sind die einzigen in Europa dieses Jahr - und Teil der ersten Tour, seit Schlagzeuger Taylor Hawkins am 25. März 2022 mit 50 Jahren gestorben ist. Am Freitag ist das neue Album der Foo Fighters erschienen, "But Here We Are" heißt es. Die Foos spielen die Trauer einfach an die Wand - und Freese trommelt, als müsste er erst beweisen, der richtige Hawkins-Ersatz zu sein. Muss er nicht.

21.44 Uhr: Okay, jetzt klatscht sogar mein Spiegelbild-Typ rechts neben mir. Muss also wirklich gut sein, der Auftritt der Foo Fighters.

23.15 Uhr: Die Foo Fighters singen "Everlong" in den Nürnberger Nachthimmel und hören mit einem meiner Lieblingssongs überhaupt auf. Kann ich also nix schlechtes drüber sagen. Ich strawanze noch kurz umanand, stelle aber fest, dass ich eigentlich viel zu alt bin für den ganzen Käse. Werde mich jetzt ins VIP-Shuttle fläzen und dann wieder nach Niederbayern düsen. Sauschön wars, danke Nürnberg. Servuspfiadeciao.