Straubing

Ein überfordertes System: Warum die Jugendhilfe in der Flüchtlingskrise an ihre Grenzen stößt


Warum müssen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in ein System integriert werden, das gemacht wurde für Jugendliche mit ganz anderer Problemstellung?

Warum müssen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in ein System integriert werden, das gemacht wurde für Jugendliche mit ganz anderer Problemstellung?

Sagen wir's offen: Fachkräftemangel? Kein qualifiziertes Personal auf dem Markt? Stimmt ja gar nicht, ist doch alles da. Man muss halt nur richtig suchen. Deshalb der Tipp an unsere Unternehmer: Fragt einfach im Bekanntenkreis rum, dann wird das schon klappen. Macht es wie manche Leute, die jetzt überall in das Geschäft mit Heimplätzen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge einsteigen. Da klappt das nämlich ganz gut.

Es ist nämlich so, dass der Sozial-Arbeitsmarkt ziemlich leer gefegt ist. "Sozialpädagogen sind extrem rar, es gibt kaum qualifizierte Bewerber", sagt fast jeder im Markt. Es ist aber auch so, dass praktisch jeden Tag irgendwo im Land eine neue Wohngruppe aufmacht, für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, UMF im Amtsdeutsch, oder, weil's immer noch kürzer geht, einfach UM. Und jede neue Wohngruppe braucht natürlich Fachpersonal, also Sozialpädagogen und Erzieher. Die gibt's auf dem Markt allerdings kaum noch, und trotzdem finden alle neuen Heime immer noch genügend. Ist das nicht ein Wunder?

Günther Petzko vom Betreuungsverein 1:1 sagt, dass sein Verein über Ausschreibungen noch Leute gefunden hat. Er ist einer der wenigen, die das sagen. Petra Penzkofer-Hagenauer, Chefin des Sozialunternehmens Perspektive, sagt sogar, dass man "ganz viel findet", aber nicht über Inserate, sondern über eigene Kontakte: "Ich kenn halt relativ viele Leute." Heiko Schumann von Sonet formuliert ähnlich. Und so gelingt es, dass überall im Land immer mehr Wohngruppen eröffnen. Sie müssen eröffnet werden. Es kommen ja immer mehr UM, alle müssen untergebracht werden, den Vorgaben entsprechend. Da muss einfach Personal da sein.

Es kann sehr einträglich sein

Kleine Träger eröffnen genauso wie große bayernweite Träger, die früher von der Agentur für Arbeit Geld dafür bekommen haben, dass sie Langzeit-Arbeitslose in Kurse gesteckt haben, die offiziell dazu dienten, sie fit zu machen für den Arbeitsmarkt, deren eigentlicher Zweck jedoch war, Langzeitarbeitslose aus der offiziellen Statistik herauszuhalten. Jetzt bekommen sie Geld von den Jugendämtern. "Ein einziges binnenpolitisches Konjunkturprogramm", nennt es ein Sozialarbeiter, und er sagt noch etwas: "Strukturell kann das nicht funktionieren."

Jeder Träger kann offiziell vorrechnen, dass er damit nicht reich wird: Weil ja Tarif bezahlt wird, es einen Personalschlüssel gibt und das Personal qualifiziert sein muss. Zwischen 120 und 150 Euro kostet ein vollstationärer Platz für einen UM täglich. Es gibt auch Heime mit ambulanter Betreuung: Notunterkünfte mit Grundversorgung und Erziehungsbeistand, da rechnen die Träger nach Stunden ab, pro Stunde bis zu knapp 60 Euro. Der Betreuungsverein 1:1 arbeitet nur mit qualifiziertem Personal. Wer das tut und Tarif bezahlt, nimmt viel ein, hat aber auch Personalkosten. "Einträglich", sagt einer inoffiziell, "ist es immer."

Es kann mehr als einträglich sein: Gut 500.000 Euro hat die Stadt allein im September für unbegleitete Minderjährige ausgegeben. Landtagspräsident Christian Bernreiter aus Deggendorf sagt, dass ein einziger Platz bis zu 60.000 Euro pro Jahr kostet. Das durchschnittliche deutsche Jahresgehalt liegt bei 41.000 Euro; Sozpäds haben weniger. Regierung und Jugendämter kontrollieren natürlich, ob alle Standards zu Mitarbeiterqualifikation und Personalschlüssel eingehalten werden und sie finden heraus: Alles wird eingehalten. Aber fragen Sie einmal in einem Pflegeheim ihrer Wahl eine Pflegerin nach dem Personalschlüssel. Die wird zurückfragen: "Personalschlüssel? Bei uns im Heim? Den theoretischen oder den in der Praxis?"

Wie zukunftstauglich ist das wirklich?

Man kann einen Personalschlüssel mit und ohne Krankenstand rechnen, mit Vollzeit- oder Teilzeitpersonal. Und man kann Sozialpädagogen einsetzen oder 20-jährige Sozpäd-Praktikantinnen. Die bekommen dann vom Träger einen Bruchteil des Stundenlohns, den die Stadt an den Träger für den Sozialpädagogen bezahlt. Der Träger kann auf diese Art schon sehr gut verdienen. Nur, weil es die Sozialbranche ist, muss ein Unternehmen ja noch lange kein Sozialromantiker sein. Wichtig ist ja die geleistete Arbeit. "Es ist kein Einziger dabei, zu dem ich nicht völliges Vertrauen hab", sagt Jugendamtschef Markus Wimmer über die Träger. Das ist ihm wichtig zu sagen, das muss er sagen. "Die Not ist zwar nicht klein", sagt er, "aber wir nehmen keinen, wo ich nicht dahintersteh'." In Straubing also ist demzufolge alles gut, auch wenn nicht jeder nur mit ausgebildeten Fachkräften arbeitet. Aber die Not ist nicht klein, und natürlich können auch Praktikantinnen sehr gute Arbeit machen. Nur: wie lange kann dieses System eigentlich noch funktionieren? Taugt das auch für die Zukunft?

Im August 2014 waren zwölf UM in Straubing. 13 Monate später waren es über 150. Nächstes Jahr werden es noch mehr sein. Alle kommen in das bestehende Jugendhilfe-System. Für wie viele kann man eigentlich Plätze für 130 Euro pro Tag neu schaffen? Für wie viele kann man 50-Euro-Fachstunden bezahlen? Und vor allem: Wie lange noch kann man über Mundpropanda oder sonst irgendwie Personal finden, das tatsächlich die Ansprüche erfüllt, die einen Tagessatz bis zu 150 Euro und Stundenlöhne von fast 60 Euro rechtfertigen? Und: Muss man das eigentlich?

"Verwaltung, die vor sich selber Angst hat"

Warum müssen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in ein System integriert werden, das gemacht wurde für Jugendliche mit ganz anderer Problemstellung? Es wurde entwickelt für Jugendliche mit sozialen und emotionalen Störungen; mit Lern- und Leistungsstörungen; für vernachlässigte junge Leute, die allein nicht zurechtkommen. Es sind vergleichsweise wenige, und selbst für sie gibt es Wartelisten: Denn dieses System ist teuer. Jetzt kommen junge Flüchtlinge in sehr viel höherer Zahl, von denen ständig gesagt wird: "Die meisten sind lernwillig, leistungsbereit, sie wollen arbeiten." Für sie werden jetzt teure Plätze finanziert, die für die eigentliche Zielgruppe nicht finanzierbar waren.

Brauchen sie tatsächlich solch einen Heimplatz für bis zu 150 Euro am Tag? Es gibt Leute im Heimbereich, die sagen inzwischen: "Es war ein politischer Fehler, dass die unbegleiteten Minderjährigen an die Jugendhilfe angekoppelt wurden." Aber sie sagen es nicht öffentlich. Sie arbeiten in diesem System, sie wollen sich nicht mehr Ärger als nötig einhandeln. Es gibt auch Leute wie Michael König, Chef von Justland in Bogen. Er hält für richtig, dass unbegleitete Minderjährige in der Jugendhilfe angesiedelt sind. Er sagt: "Wo denn sonst?"

Aber Michael König sagt auch: "Wir kämpfen gegen eine Verwaltung an, die vor sich selber Angst hat." Justland ist auch in die UM-Betreuung eingestiegen, zunächst im Landkreis, bald auch in der Stadt. Justlands Kerngeschäft ist die Arbeit mit einheimischen Problem-Jugendlichen. Das Konzept ist Integration über Arbeit. Nicht so wie die Arbeitslosenquoten-Verschönerer, sondern unter Echt-Bedingungen.

"Sorry, keine Sache der Jugendhilfe"

Justland hat eigene Werkstätten, mit Produktion unter Zeitdruck, echte Marktbedingungen. "Wir haben", sagt König, "eine Erfolgsquote von über 90 Prozent." So in etwa müsste auch die UM-Integration sein, glaubt König. Aber das ist sie nicht. Die Jugendämter trauen sich nicht, solch ein Modell zu finanzieren. Das wäre ja Geld für eine berufliche Qualifizierungsmaßnahme. Diesen Begriff scheuen Jugendämter aber wie der Teufel das Weihwasser. Und warum? Weil für berufliche Qualifizierung die Agentur für Arbeit zuständig ist. Aber die gibt kein Geld für UM. Und warum nicht? Weil für UM das Jugendamt zuständig ist.

Denn das Finanzierungssystem für unbegleitete Minderjährige läuft so: Für einen UM ist das Jugendamt zuständig, auf dessen Gebiet er gefunden wird. Dieses Jugendamt trägt die Kosten für ihn. Das Geld bekommt das Jugendamt wieder, und zwar nach einem bestimmten System vom Jugendamt einer anderen Stadt. Das kann einmal Augsburg sein, das nächste Mal Buxtehude. Manche Jugendämter überweisen ihren Anteil problemlos innerhalb weniger Wochen, andere nach Monaten. Und "manche", sagt Jugendamtschef Wimmer, "überweisen erst, nachdem sie fünf Mal gefragt haben, wofür genau im Einzelnen sie bezahlen."

Das ist ein sehr großer bürokratischer Aufwand. Er garantiert, dass ein Jugendamt alles vermeiden wird, was nach beruflicher Qualifizierung klingt. Denn das wäre ein prima Grund für ein anderes Jugendamt, seinen Finanzierungsanteil zu verweigern: "Berufliche Qualifizierung? Sorry, keine Aufgabe der Jugendhilfe, holt euch euer Geld vom Arbeitsamt oder sonst irgendwo, wir zahlen jedenfalls nicht."

Wie lange kann es so weitergehen?

Damit haben wir folgende Lage: Ständig machen neue UM-Heime auf, denn der Bedarf steigt. "In vielen Heimen wird nur verwaltet", sagt ein Kenner. Und obwohl der Arbeitsmarkt leer ist, sagen die Träger, dass sie qualifiziertes Personal finden, und sogar in der nächsten Umgebung, einfach durch Mundpropaganda: Ein Wunder. Aber der Zustrom wird weitergehen. Das Wunder auch? Wird es eine wundersame Personalvermehrung geben wie einst die Brotvermehrung? Kann es auch in zwei Jahren immer noch neue Heime geben, mit diesen Tagessätzen und leerem Arbeitsmarkt?

"Die Stadt Straubing", sagt Jugendamtsleiter Wimmer, "hat immer noch mehr Bewerber als Stellen bei ihren Ausschreibungen." Aber wenige Minuten zuvor hat er auch gesagt: "Als ich vor 30 Jahren studiert hab, hat es kaum Stellen gegeben. Heute kann man zwischen drei und vier Stellen auswählen." Ein anderer erfahrener Sozialpädagoge sagt: "Natürlich gibt's Bewerbungen. Aber das ist nicht die Qualität, die ich will." Wimmer wird zunehmend Trägern vertrauen müssen, die für 50 Euro und mehr mit Praktikanten, pädagogischen Hilfskräften oder Hauswirtschaftskräften arbeiten.

Das derzeitige System ist ein System, das auf Dauer mehr Fachkräfte braucht, als es gibt, und das so auf Dauer nicht finanzierbar ist. Es gibt Leute, die sagen, dass genug Geld da ist, "kein Mensch schreit", sagen sie, "wenn mit Milliarden Banken und Staaten gerettet werden." Kein Mensch? Wolfgang Bosbach schreit schon lange, und nicht als Einziger. Das Geld ist da? Warum eigentlich gibt es die Aktion "Pflege am Boden"? "Für einheimische Kinder gibt es Wartelisten", sagt ein Sozialpädagoge, "ich muss mich trauen, zu sagen: Das überfordert uns." Er sagt es inoffiziell. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er es laut sagt.