Student aus Passau

Wie Paul mit einer neuen Therapiemethode ADHS bekämpfen will

Paul hat eine Aufmerksamkeitsstörung. Früher nahm er Medikamente, heute versucht er es mit Neurofeedback, einer neuen Therapiemethode, die viele Störungen behandeln kann.


Paul während eines Spaziergangs durch den Stadtpark Passau. In der Natur bekommt er seinen Kopf frei.

Paul während eines Spaziergangs durch den Stadtpark Passau. In der Natur bekommt er seinen Kopf frei.

Von Maja Single

Paul sitzt auf einem Stuhl in einem hellen und modern eingerichteten Zimmer. Einige Blumen stehen auf den Schränken, die Wände schmücken Bilder und Gemälde. Vor ihm steht ein Fernseher, rechts davon auf dem Schreibtisch zwei Bildschirme, eine Tastatur und ein Laptop. Um ihn herum Kabel und zwischen seinen hellbraunen Haaren, über und unter seinem linken Auge glitzern Elektroden.

Er ist nach vorne geneigt. Seine blauen Augen sind auf die Landschaft vor ihm fokussiert. Eine kleine Insel mit zwei Palmen, umgeben von Wasser, auf dem sich die hoch am Himmel stehende Sonne spiegelt. Auf einmal sinkt die Sonne sanft über den Horizont hinab, der blaue Himmel verfärbt sich erst leicht gelblich und erstrahlt schließlich in kräftigem orange-rot.

Menschen mit ADHS versinken sehr schnell in Tagträume

Die warmen Farben und die karibische Atmosphäre stehen im starken Kontrast zu dem Schnee, der heute in dicken Flocken vom Himmel fällt. Paul sitzt in einer Kinderarztpraxis in Passau. Vor eineinhalb Jahren wurde bei dem jetzt 25-jährigen Studenten eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) diagnostiziert. Schon in der Schule hat Paul gemerkt, dass er Probleme hat, sich aufzuraffen und zu lernen. Im Unterricht war er unruhig. Trotzdem waren seine Noten immer so gut, dass es niemanden wirklich störte.

In den letzten Jahren hat die Unruhe aber zugenommen. Im Sommer fährt er fast jeden Tag Fahrrad, rudert, trifft sich mit Freunden, singt in einem Chor und ist in politischen Gruppen aktiv. Fürs Stillsitzen und konzentrierte Lernen findet er nur nachts Zeit. Und selbst dazu muss er sich zwingen.

Seit einigen Monaten trifft sich Paul nun wöchentlich mit Neurofeedbacktherapeutin Maria Irlinger in der Kinderarztpraxis Handwerker. Neurofeedback soll ihm vor allem helfen, sich länger konzentrieren zu können.

Das zweite stationäre Hospitz für Kinder und Jugendliche in Bayern ist am Freitag eröffnet worden. Neurofeedback ist eine besondere Form von Biofeedback. Beim Biofeedback werden biologische Signale wie Muskelspannung, Blutdruck und Herzfrequenz gemessen und aufgezeichnet. Beim Neurofeedback misst man mithilfe von Elektroden und einem Elektrozephalogramm (EEG) Hirnstromwellen. Unterschieden werden fünf Wellentypen. Alphawellen sind charakteristisch für den wachen Zustand in Ruhe, Betawellen treten im wachen und aufmerksamen Zustand auf, Gammawellen im wachen und stark konzentrierten Zustand, Deltawellen im traumlosen Schlaf und Thetawellen kommen in leichteren Schlafstadien vor. Alle Wellen zusammen ergeben ein Muster. "Als ersten Schritt nehmen wir also ein EEG auf und schauen, wo in diesem EEG Abweichungen von der Altersnorm vorhanden sind", sagt Georg Handwerker, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und zertifizierter Neurofeedbacktherapeut.

"Ich habe alleMedikamente probiert,nichts hat geholfen"

Im Muster eines Menschen mit Aufmerksamkeitsproblemen kann man mehr Wellen feststellen, die dafür sorgen, dass man schneller in Tagträumen versinkt und die Konzentration nachlässt. Durch eine Neurofeedbacktherapie lassen sich diese Abweichungen dann ausgleichen. Man stärkt Hirnstromwellen, die für Aufmerksamkeit und Wachheit verantwortlich sind.

Damit das funktioniert, ändert ein Neurofeedbackprogramm die Signale des EEGs so um, dass sie auch für den Patienten verständlich sind. So zum Beispiel eine Sonne, die auf- und untergeht, oder eine Blütenknospe, die sich öffnet und wieder schließt, je nachdem, wie stark die Hirnstromwellen arbeiten.

Im zweiten Teil seiner Therapiestunde schaut Paul einen Film an. "Die fabelhafte Welt der Amélie". Die Aktivität seiner Hirnstromwellen wird nun in Form von Wärme gemessen. Um den Film schauen zu können, muss sein Kopf warm genug sein, ansonsten bleibt der Film stehen. Am Anfang läuft alles gut, doch nach einer Weile kommt es zu Unterbrechungen. Von Mal zu Mal dauern sie länger. Am frustrierendsten ist aber die Unterbrechung kurz vor Amélie und Nino Quincampoixs erstem Kuss.

Es ist abends, nur eine kleine Tischlampe und das Licht der Straßenlaternen lassen Amélies rot tapezierte Wohnung in dämmrigem Licht erscheinen. Amélie und Nino stehen im Flur, die schwere Holztür ist hinter ihnen ins Schloss gefallen. Amélie hebt ihren Kopf und ihre Blicke treffen sich. Für einen Moment schauen sich beide nur an, dann wandern Amélies Augen zu seinen Lippen und sie neigt sich ganz langsam nach vorn. Da bleibt das Bild stehen. Paul flucht leise und versucht sich wieder stärker zu konzentrieren.

"Das Wichtigste ist, dass das Neurofeedbackprogramm spannend und motivierend ist", sagt Handwerker. Der zweite Schritt ist also das Finden des passenden Programms. Das kann sich von Mensch zu Mensch unterscheiden. Kinder schauen meistens Filme oder spielen Spiele. Erwachsene hören auch manchmal nur Musik, die entsprechend der Aktivität der Hirnstromwellen lauter oder leiser wird. Das wäre für viele Kinder zu langweilig.

"Neurofeedback ist also eine hochgradig individualisierte Medizin", meint Handwerker: "Es ist allerdings überhaupt nicht so, dass Neurofeedback nicht standardisiert ist. Zum einen gibt es standardisierte Protokolle, die verwendet werden. Und zum anderen gibt es auch standardisierte Weisen, wie man das EEG anschaut und beurteilt."

Das Neurofeedback muss spannend und motivierend sein

Auch die Anzahl der Sitzungen ist vorgeschrieben. Für Aufmerksamkeitsstörungen sind es beispielsweise 25 bis 30 Sitzungen. "Eine Wirkung zeigt sich aber meistens schon nach fünf bis zehn Sitzungen", spricht Handwerker aus Erfahrung. Bei Kindern wird vor allem mit Eltern und Lehrern gesprochen. Sie berichten von höherer Aufmerksamkeit, besserer Rechtschreibung, weniger Konflikte in der Familie und auf dem Schulhof und einem allgemein entspannteren Umgang. Die Wirkung hält für mindestens drei bis sechs Monate nach der Behandlung an. Danach kann man Termine zum Auffrischen vereinbaren.

Paul spürt vor allem unmittelbar nach den Sitzungen eine Veränderung, die bis zum Abend anhält. In seinem EEG zeichnet sich aber auch eine länger andauernde Wirkung ab. Das kommt ihm besonders beim Lernen fürs Studium zugute. Nach elf Semestern Jura und zwei Auslandsaufenthalten in Israel und Indien ist er nun bereit, sein Staatsexamen zu schreiben. "Das wird eine Menge Aufwand und ich hoffe sehr, dass mir das Neurofeedback helfen wird".

Die meisten Menschen mit Aufmerksamkeitsstörungen bekommen Medikamente verschrieben. So auch Paul. Nach seiner Diagnose hat er mit seinem Psychiater verschiedene Stimulanzien ausprobiert. Ritalin, Elvanse und Dexamphitamin. "Ich habe sozusagen alle Medikamente ausprobiert, die es gibt, aber keins hat mir wirklich geholfen", erzählt er. "Sie wirken zwar schnell, aber auch nur vorübergehend und haben schwere Nebenwirkungen." Schlaflosigkeit, Nervosität, Angstzustände und Gewichtsverlust sind nur wenige.

"Mit Ritalin und Amphitamin habe ich die Erfahrung gemacht, mich schnell von Sachen einnehmen zu lassen. Ich habe mich stark auf einzelne Dinge fokussiert, auf die ich mich gar nicht fokussieren wollte. Ich konnte an nichts anderes mehr denken."

Zu möglichen Nebenwirkungen des Neurofeedbacks äußert sich Handwerker unbesorgt: "Es gibt Verfahren, die als anstrengend empfunden werden. Sie können Kopfschmerzen und Verspannungen verursachen". Bei Verfahren, die auf das vegetative Gleichgewicht des Gehirns Einfluss nehmen, können auch Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen, Schwindel und Gangunsicherheit auftreten. Der Therapeut kann dies steuern, sodass normalerweise keine Nebenwirkungen auftreten.

Sollte man nun Medikamente streichen und auf Neurofeedback setzen? Das kommt ganz auf den Menschen an. Was für eine Krankheit er hat, wie stark sie ausgeprägt ist und in welcher Situation er sich befindet. Viele neuropsychologische Krankheiten müssen multimodal behandelt werden. Auch bei Aufmerksamkeitsstörungen werden Medikamente und medikamentfreie Therapiemethoden empfohlen. Wichtig ist laut Handwerker, dass Diagnosen richtig gestellt sind. Aufmerksamkeitsstörungen können mit emotionalen und motivationalen Störungen vertauscht werden. Es ist also sinnvoll, mit einer medikamentfreien Therapie zu starten und erst Medikamente zu verschreiben, wenn alle anderen Methoden ausgereizt sind.

Zur Autorin

Maja Single studiert in Passau Journalistik und strategische Kommunikation. Ihr Beitrag ist in einer Lehrredaktion entstanden, die in dem Studiengang integriert ist. Die Lehrredaktion wird von Redakteuren unserer Mediengruppe betreut.