Bülent kennt jeden

Eine Nachtschicht im Passauer Dönerimbiss "Anatolia"

Wenn andere schlafen, macht Bülent Döner. Das kommt auch bei seinen Stammkunden, betrunkenen Clubgängern, gut an. Eine Nacht im Imbiss "Anatolia" auf der Suche nach dem Erfolgsgeheimnis


Bülent bestückt einen Döner mit Gemüse. Vor der Eröffnung seines eigenen Imbiss hat er schon ein paar Jahre in einer anderen Dönerbude gearbeitet.

Bülent bestückt einen Döner mit Gemüse. Vor der Eröffnung seines eigenen Imbiss hat er schon ein paar Jahre in einer anderen Dönerbude gearbeitet.

Von Luca Essel

Tote Hose in der Passauer Altstadt - aber nur auf den ersten Blick. Es ist 01:30 Uhr. Das Treiben derer, die sich vor wenigen Stunden durch die Gassen gedrängt hatten, ist passé. Doch ein paar junge Leute - mal mehr, mal weniger betrunken - taumeln noch die Pflastersteine zwischen den Clubs entlang. Zwei Männer auf einer Bank diskutieren laut, wer schon mehr Bier intus hat. Türkische Pop-Musik begleitet die alkoholische Diskussion. Sie kommt aus dem Laden gegenüber.

Hier, wenige Meter entfernt, brennt noch Licht. Der Duft von frisch gebackenem Brot kommt durch das gekippte Fenster der gläsernen Fassade nach draußen.

"Mit allem oder?"

"Ja, mit allem."

Der kleine, schwarzhaarige Mann hinter der Theke füllt mit schnellen, geübten Handgriffen das noch warme Fladenbrot in seiner linken Hand: Sauce, Salat, Zwiebel, Tomate, Gurke, Mais, Kraut, wieder Soße. Er sieht etwas müde aus. Sein Dreitagebart passt zu den leichten Schatten, die sich unter seinen braunen Augen abzeichnen. "Heute hast du gearbeitet?", fragt er hinter der Theke. "Ja, Meister!", antwortet ihm der Kunde.

Er legt den fertigen Döner auf ein Stück Alufolie und streift die Hände an der knallgrünen Schürze ab, die er unterhalb seines schwarzen T-Shirts umgeknotet hat. Dunkle Brusthaare kräuseln sich aus dem Ausschnitt des T-Shirts heraus. Dann wickelt er den Döner mit wenigen Handbewegungen ein.

"War viel los?"

"Ja Bülent, der Chef ist krank."

"Chef ist krank, klingt schwer. Von wo biste?"

"Pakistan."

Ein Mitarbeiter kommt aus dem Hinterraum und klinkt sich in das Gespräch ein.

"Aus Kabul?"

"Kabul ist Afghanistan, mein Freund", wirft Bülent ihm entgegen und zieht seine buschigen Augenbrauen nach oben. Die Männer lachen immer noch, als der Kunde schließlich bezahlt, den Laden verlässt und vorbei an den Betrunkenen, die sich nun kaum noch auf der Bank halten können, um die Ecke in eine Gasse biegt.

Viele kommen nur wegen Bülent

Seit 23 Jahren hat der 50-jährige Bülent Sefer seine Dönerbude in der Passauer Altstadt, unweit der Donau. Benannt nach seiner türkischen Heimat Ostanatolien, war das "Anatolia" lange der einzige Passauer Döner-Imbiss, der nachts geöffnet hatte. Als der dreifache Vater vor ein paar Jahren mit der Idee längerer Öffnungszeiten beim Ordnungsamt vor der Tür stand, wollte ihm erst keiner Erfolg versprechen. "Nach zwei Jahren war es dann brutal hier. Nachbarn haben sich beschwert, dass es so laut ist", sagt er und schmunzelt. "Dann kam das Ordnungsamt und hat gefragt, was ich hier mache. Da meinte ich: ,Das Essen schmeckt eben.'"

Vor allem bei Studenten sei der Döner nachts nach dem Feiern gut angekommen. "Mit der Zeit wurde das Angebot in Passau größer und mehr Imbisse waren länger offen, aber trotzdem kamen meine Stammkunden noch her."

02:10 Uhr. Ein Mann Mitte 20 kommt rein. Er taumelt unbeholfen Richtung Theke, während Bülent die Mehlreste auf der Arbeitsfläche mit einem Lappen beseitigt.

"Was kann ich für dich tun?"

"Dürüm mit alles! Her ?ey olsun, yo?urt hariç!"

"Auf türkisch! Woher kannst du das?"

"Na von dir!"

"Von mir?"

Mit strahlendem Gesicht erzählt der Kunde - so verständlich, wie es ihm der Alkohol erlaubt - dass er den Satz vor zehn Jahren von Bülent gelernt habe. "Her ?ey olsun, yo?urt hariç" - alles außer Joghurtsoße. Bülent grinst. Während er die Bestellung zubereitet, breitet der Kunde seine halbe Lebensgeschichte auf der Theke aus. Als er den Laden verlassen hat, blickt Bülent zu dem Mitarbeiter, der das Gespräch gespannt verfolgt hat.

"Schau, er hat vor zehn Jahren türkisch von mir gelernt und kann es noch! Du arbeitest hier und kannst das nicht!"

Wenn man Bülent fragt, was ihm an der Arbeit Spaß macht, muss er nicht lange überlegen: "Der Kontakt und Austausch mit verschiedenen Menschen." Er lerne Leute kennen, die ihm die interessantesten Geschichten erzählen. Bülent kennt jeden und jeder kennt Bülent. Das weiß auch Selcuk Ersin. Er arbeitet seit über zehn Jahren im Anatolia und ist der treuste Mitarbeiter. "Wir sind wie Brüder und können uns aufeinander verlassen. Es gibt nichts Besseres", beschreibt der 43-Jährige die Beziehung zu seinem Chef. Es gebe viele Kunden, die nur wegen Bülent zu Anatolia kämen. "Er weiß, wie er mit den Leuten umgehen muss. Er hat Respekt, kommt entgegen und sorgt für die richtige Qualität", erklärt Selcuk.

02:45 Uhr. Plötzlich füllt es sich. Sieben Menschen tummeln sich im Imbiss. Ein Geruch von Alkohol, Rauch und Schweiß lässt erahnen, wo die Kundschaft herkommt. Einige der etwa 20-Jährigen setzen sich an die kleinen Holztische, die an der orange gefliesten Wand befestigt sind. Es ist laut und voll und Bülent hat die Ruhe weg. Nach und nach nimmt er Bestellungen auf, beginnt inmitten des Klirrens der Zange, mit der er das abgeschabte Dönerfleisch zusammenkratzt, mit zwei Kundinnen zu reden.

"Wo kommt ihr her? Zauberberg oder Cubana?"

"Cam"

"War da was heute?"

"Klar!"

"Viel los?"

"Total viel, aber hat sich gelohnt!"

"Ich wollte auch hin, aber der Chef hat mich nicht gelassen!", kommt es von dem Mitarbeiter, als wolle er ihm den vorigen Seitenhieb zurückzahlen. "Ja ja, hört nicht auf den", kontert Bülent.

Trotz Stress Ruhe zu bewahren, ist für Bülent Pflicht: "Man muss locker bleiben. Diese Arbeit erfordert Ruhe. Stress bringt nichts." Normalerweise arbeitet er fünf bis sieben Tage die Woche, entweder von morgens bis nachmittags oder von nachmittags bis zum Ladenschluss. "Wenn jemand krank ist, bin ich auch mal den ganzen Tag von 10 bis 3 Uhr da. Das geht dann nicht anders", sagt er. Eben dieses Engagement seines Chefs ist für Ersin das Erfolgsgeheimnis des beliebten Imbiss: "Bülent hat die letzten Jahre brutal viel geleistet. Er ist nach all der Zeit immer noch selbst im Laden. Wäre das nicht so, würde es nicht so gut laufen." Dabei hat der 50-Jährige schon diverse Rückschläge hinter sich. Vor zehn Jahren hatte er einen Bandscheibenvorfall und leidet noch immer unter den Folgen: "Man muss oft schwer heben, wenn Lieferungen kommen oder Getränke nachgefüllt werden müssen. Das ist nicht einfach." Daneben wurde sein Bruder Metin, der damals auch bei Anatolia gearbeitet und ihn sehr unterstützt hat, vor etwa elf Jahren in die Türkei abgeschoben. "Er hat viel gearbeitet, war angemeldet, integriert und auf einmal kam der Brief", erinnert sich Ersin. Damals hätten sie Unterschriften gesammelt und Hilfe der Studenten erhalten, die sich für den Bruder einsetzten, aber ohne Erfolg. Metin gehe es jetzt zwar gut, trotzdem sei es ein Rückschlag gewesen. "Es wäre eine brutale Erleichterung, wenn er hier wäre", so Ersin.

"Besoffen sind viele Menschen sehr aggressiv"

Bülent selbst hat in den 90ern mit 18 alleine seine Heimat verlassen. Politische Gründe seien der Anlass gewesen. Erst kam er nach Österreich, von dort nach Deutschland. "Ich hatte schon als Kind Interesse an der Arbeit in der Gastronomie", sagt er. Jedoch war er vor Eröffnung des Imbiss erst in vielen anderen Bereichen tätig: Schokoladenfabrik, Gärtnerei, Deutsche Bahn - die Liste ist lang. Doch das Richtige war nie dabei. Ein Job in einer Passauer Baufirma war dann der letzte Anstoß zur Selbstständigkeit. Sein Gehalt wurde so lange nicht ausgezahlt, bis der Fall vor das Gericht kam. "Drei bis vier Monate hat es gedauert, bis das Geld kam. Da dachte ich: Ich mache mich selbstständig. Keine Arbeit für andere mehr. Da hab ich meine Ruhe."

03:05 Uhr. Seit fünf Minuten ist offiziell Ladenschluss. Bülent ist mit dem Schlüssel in der Hand auf dem Weg zur Tür, als ihm zwei Männer entgegentaumeln.

"Haste noch was?"

"Ja, kommt noch rein!"

"Zweimal Dönerbox!"

Während Bülent das übrige Fleisch, das er schon in Alufolie gewickelt und weggeräumt hat, wieder auspackt, versuchen die Kunden ihrem Freund, der draußen andauernd "kommt jetzt" ruft, zu erklären, dass sie noch Hunger hätten. Bülent macht still seine Arbeit, packt das fertige Essen ein und sagt den Kunden, dass sie nun bezahlen können.

"Zehn Euro bitte!"

"Hab ich dir schon gegeben!"

"Nein hast du nicht, ich kriege zehn Euro."

"Ich hab aber schon bezahlt!", kommt es in einem aggressiven Ton zurück. "Nein, du Depp", sagt der Zweite.

Bülent bleibt ruhig, lässt sich nicht beirren. Nach zwei Minuten hat er die Diskussion gewonnen und bekommt das Geld. Solche Situationen erlebe er öfter, sagt Bülent: "Natürlich nervt und belastet das auch meine Mitarbeiter, wenn es nachts Probleme gibt. Besoffen sind viele Leute sehr aggressiv." Gewalttätig sei aber bisher kaum jemand gewesen, da er immer versuche, die Situation anders zu lösen: "Man darf nie anfangen, sich zu schlagen. Das sind eben Besoffene. Da kann man nichts machen." 03:25 Uhr. Endlich Feierabend - zumindest fast. Gut eine Stunde wird es noch dauern, um alles zu spülen, zu putzen und wegzuräumen. Dann wenige Stunden Schlaf für Bülent, bevor es um 10:00 Uhr wieder losgeht, weil er morgen einspringen muss. Draußen ist jetzt wirklich tote Hose.

Zur Autorin:

Luca Essel studiert in Passau Journalistik und strategische Kommunikation. Ihr Beitrag ist in einer Lehrredaktion entstanden, die in dem Studiengang integriert ist. Die Lehrredaktion wird von Redakteuren unserer Mediengruppe betreut.