Leitartikel

Politik

Zur Freiheit befreit


"Freiheit: ich liebe ihr aufblitzendes Gesicht: es blitzt aus dem Dunkel auf und verlischt, aber es hat dein Herz gefeit. Ich bin ihr zugetan. Ich bin allzeit bereit, um sie mitzukämpfen. Ich liebe die Freiheit, aber ich glaube nicht an sie. Wie könnte man an sie glauben, wenn man ihr ins Gesicht gesehen hat! Es ist der Blitz der Alldeutigkeit? der Allmöglichkeit. Um die kämpfen wir, immer wieder, von jeher, siegreich und vergebens." So weiß es schon vor fast 100 Jahren in seiner "Rede über das Erzieherische" der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber. Denn die Freiheit hat viele Gesichter. Gerade der ganz frei gewordene Mensch kann seine Freiheit nur für Augenblicke aushalten. Denn an den Rändern der Freiheit steht die Angst, die
Überforderung durch diese vollkommene Freiheit, auch die Einsamkeit. Zudem der mögliche Absturz in den Missbrauch der Freiheit: ein Leben, das Verantwortung und Beziehung zum Nächsten dem eigenen Freiheitswillen hintansetzt.

Kein Wunder also, dass das Freiheitspathos unseres neuen Bundespräsidenten Joachim Gauck so manchen verstört. Denn welche Freiheit ist hier überhaupt gemeint? Freiheit erschöpft sich heute ja längst nicht im Widerspruch zu den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts. Zudem steht der so korrekt sich gegenüber den Kameras der Welt verhaltende neue Bundespräsident mit seinen wohltemperierten Sätzen in merkwürdigem Kontrast zum anarchistischen Impuls, der der Freiheit immer auch innewohnt. Wer ein so öffentliches Amt wie das des Bundespräsidenten ausübt, der gibt natürlich einen großen Teil seiner persönlichen Freiheit ab an das institutionelle Gefüge seines Landes, das ihm dafür aber Aufmerksamkeit und Anerkennung zurückgibt.

Das Mischungsverhältnis von Freiheit und Norm, in die man sich einzufinden hat, ist seit jeher ein zentrales Thema von Philosophie und Soziologie. Dass der überangepasste Christian Wulff hinter der Fassade des politisch ganz korrekten
Bundespräsidenten sich eine zweite sehr viel schönere Welt eingerichtet hatte, wo er sich gerne beschenken ließ und sich so zusätzliche Freiräume schuf, das gehört natürlich zusammen. Nur wenn die Schnittmenge von persönlicher Freiheit und
gesellschaftlicher Rolle für einen auszuhalten ist, verzichtet er am Ende gerne darauf, sich irgendwo anders ein zweites Leben einzurichten, wo die sonst verhinderten Freiheitsansprüche dann eingelöst und ausgelebt werden. Dass in Amerika gerade die konservativsten Prediger und Politiker, denen man es vordergründig am allerwenigsten zugetraut hätte, häufig ihre Frau betrügen und ein zweites verstecktes Leben führen, gehört genau hierher.

In unserer bürgerlichen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, gerade in Deutschland, ist das Maß, das an persönlicher Freiheit denen, die gesellschaftlich Verantwortung tragen wollen, zugestanden ist, heute so klein wie nie. Auf allen Wegen werden sie
regelrecht überwacht. Wer den Journalisten der öffentlich-rechtlichen Anstalten Rede und Antwort steht, der muss vor allem in seinem Kopf so zurechtgebügelt sein, dass seine Sprachfloskeln den Erwartungen und dem Horizont der Deppendorfs dieser
Welt exakt entsprechen.

Bereits vorher darf sein Lebenslauf allen Suchmaschinen im Internet keinen Anlass zur Auffälligkeit gegeben haben. Bereits kleinste Nuancen, die den Kodex der politischen Korrektheit verletzen, werden dann wieder bei den Deppendorfs aufgearbeitet, bis sie eingeebnet sind in den erlaubten Diskurs dessen, was gesagt und auch gedacht werden darf. Das erst gibt den Sarrazins dieser Welt die Möglichkeit, sich als dreiste Provokateure eines eingeschnürten Kanons des Sprechens zu produzieren und viel Geld zu verdienen. Alle Reste eigener Kreativität und Fantasie werden heute in der Öffentlichkeit als Themaverfehlung bewertet und sollen deshalb besser gar nicht entwickelt werden. Dass jetzt im ZDF der authentische Philosoph Peter Sloterdijk vom Milchmädchenphilosophen Richard David Precht abgelöst wird, spricht Bände. Gerade die, von denen noch am ehesten authentische Impulse des Denkens und Sprechens zu erwarten wären, sind oft besonders eingenormt in das, was sie für erlaubt halten.

Der Theologe Eugen Biser hat das mediale Sprechen, das uns täglich in den Nachrichten vorgeführt wird, als ein primär funktionalisiertes Sprechen bezeichnet, weil solches Sprechen "der Fähigkeit der Vermittlung beraubt" sei, wo in der "verkürzten und zusammengedrängten Syntax kein Raum" bliebe, wo sich am Ende "Sinn entwickeln könnte". Hinzuzufügen ist: auch kein Raum für Spontaneität und Emotionalität.

In seiner glänzenden Studie "Narziss und Ödipus: Anwendungen der Narzissmustheorie auf soziale Konflikte" hat der Soziologieprofessor Wilfried Gottschalch bereits 1988 aufgezeigt, wie gerade unsere Schulsysteme so funktionieren, dass unsere Lehrer zu angepassten Funktionsträgern dieser Gesellschaft regelrecht abgerichtet werden, damit sie dann wiederum die Schüler in einen vergleichbaren Prozess der Anpassung hineinführen. Gottschalch bringt als Beispiel: "Anlässlich des ersten Staatsexamens für Lehrer staune ich immer wieder, wie pedantisch manche Beisitzer und Vorsitzende der Prüfungskommissionen als Vertreter der Schulaufsichtsbehörde geringste Fehlleistungen registrieren, ohne den Zusammenhang der Argumentation der Prüflinge so recht zu erfassen. Sie lassen sich nicht auf das Prüfungsgespräch ein, sie kontrollieren es lediglich." Wo aber die Kontrolle als Normsetzung das entscheidende Wort hat, ist die Unterwerfung unter diese Kontrolle oft die einzige Überlebensstrategie. Als ich den Regens eines Münchner Priesterseminars vor Kurzem fragte, weshalb heute viele Kapläne, die die katholische Kirche herausbrächte, so gleich aussähen, antwortete er mir in verblüffender Offenheit, dass dies die einfachste Weise sei, ungeschoren durchs System zu kommen. Und wer wirklich am eigenen Interesse und an der eigenen Persönlichkeit festhielte, würde es im Priesterseminar oft nicht bis zum Ende aushalten.

Der Freiheitsbegriff, den unser neuer Bundespräsident Joachim Gauck in seiner schönen Antrittsrede einbrachte, war vor allem ein politischer Freiheitsbegriff, der sich aus seiner Lebensgeschichte in der DDR ableitete. Ein wichtiges Thema, mit dem er sich in bester Gesellschaft findet mit denen, die im letzten Jahrhundert unsere deutsche Geschichte in die Freiheitsgeschichte Europas hineingeführt haben. Als Fußnote zu unserem neuen Bundespräsidenten ist aber doch auch festzuhalten, dass der ein wenig eitle Pastor, der jetzt am Ziel seiner Lebensträume angekommen ist, auch genau das Maß an Freiheit verkörpert, das unsere zurechtgescheitelte Gesellschaft zu akzeptieren bereit ist. Ob er so die wahren Freiheitsimpulse geben kann, die unsere Gesellschaft so dringend braucht, das wird die spannende Frage sein.