AZ-Interview

Verheugen: "Sie wollen die Europäische Union zerstören"


"Diejenigen, die den Briten etwas von einem neuen Empire erzählen, sind entweder Zyniker oder Fantasten", sagt Günter Verheugen.

"Diejenigen, die den Briten etwas von einem neuen Empire erzählen, sind entweder Zyniker oder Fantasten", sagt Günter Verheugen.

Von Sven Geißelhardt

Ex-EU-Kommissar Günter Verheugen sieht im Brexit-Streit keine Möglichkeit für Brüssel mehr, weiter auf Großbritannien zuzugehen als bisher.

Der 74-jährige Günter Verheugen begann seine politische Laufbahn in der FDP und trat später zur SPD über. 1999 ging er als EU-Kommissar für Erweiterungspolitik nach Brüssel. 2004 übernahm er in der Kommission das Ressort Industriepolitik (bis 2010). Derzeit ist er Honorarprofessor an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). In der AZ spricht er über den Brexit.

AZ: Herr Verheugen, sehen Sie noch eine Möglichkeit, einen harten Brexit zu vermeiden?
GÜNTER VERHEUGEN: Ich sehe keine Möglichkeit mehr - zumindest nicht auf der Seite der EU. Die 27 werden ihre Position nicht mehr ändern, weil es die einzige ist, die sie gemeinsam haben können. Das Unheil nimmt seinen Lauf.

Könnte die EU noch weiter auf Großbritannien zugehen?
In welchem Punkt denn? Vielleicht werden die Briten mehr Zeit fordern. Aber diejenigen haben doch recht, die sagen: Was nutzt eine Verschiebung, wenn sich niemand bewegt? Die Rede von Premierministerin Theresa May zum sogenannten "Plan B" hat das ja gezeigt. Sie hat ihre alten Positionen wiederholt. Und das tut die EU auch.

Beim Brexit wurde auf Abschreckung gesetzt

Der Ausgang des Brexit-Referendums wird von vielen als Sieg der Populisten über die EU bezeichnet - mit eigentlich falschen Parolen. Ist das so?
Das greift wohl zu kurz. Das Referendum war die Folge jahrzehntelanger Konflikte innerhalb der britischen Konservativen. Ein Großteil der Forderungen, die der damalige Premierminister David Cameron an Brüssel gestellt hatte, waren sehr vernünftig. Denn tatsächlich ist die Balance zwischen den Institutionen der EU und den Nationalstaaten aus dem Gleichgewicht geraten. Mit der Feststellung, dass das Subsidiaritätsprinzip nicht ernstgenommen wird, hatte er völlig recht. Und dass es erhebliche Probleme mit Transparenz und Effizienz der EU gibt, stimmt auch. Allerdings haben diese richtigen Ansätze im Brexit-Wahlkampf keine Rolle mehr gespielt, weil es da dann nur noch um Zuwanderung und den angeblichen Superstaat ging, der Großbritannien unterdrückt.

Die EU hat - zumindest unmittelbar nach dem Schock - nicht nur nach London gesehen, sondern auch nach innen…
Ja, es wurde auf Abschreckung gesetzt. Das hat die Bundeskanzlerin auch deutlich gemacht, als sie sinngemäß sagte: Wir müssen das so machen, dass es sich für denjenigen, der gehen will, nicht lohnt. Es ist also eine von Angst getrieben Strategie gewesen.

"Radikale Nationalisten wollen die Europäische Union zerstören"

Ist sie gelungen?
Ich weiß nicht, ob es wirklich eine so große "Ansteckungsgefahr" gegeben hat. Ich sehe in der EU kein Land, bei dem die politische Situation auch nur annähernd mit der im Vereinigten Königreich vergleichbar wäre. Dennoch sollte man aufpassen. Denn natürlich empfinden die, die wir oft als Populisten bezeichnen, die aber in Wirklichkeit radikale Nationalisten sind, den Brexit als Ermutigung. Sie wollen die Europäische Union zerstören.

Beim Europawahlkampf befürchten viele einen Siegeszug dieser Kräfte.
Man muss den Wählern deutlich sagen, was es bedeutet, wenn sich diese Nationalisten vereinigen sollten. Die sind ja durchaus unterschiedlich, nicht nur weil es linke und rechte Strömungen gibt. Aber sie einen gemeinsame Themen wie die Ablehnung der Zuwanderung, das Nein zum Euro und so weiter. Dieser Gefahr muss die Europäische Union begegnen, indem man den Wählern sagt, welche Kräfte da wirklich am Werk sind. Es geht um einen Angriff auf das Friedensprojekt europäische Integration.

Sie waren mal EU-Kommissar für Erweiterung. Wird einer Ihrer Nachfolger in einigen Jahren ein neues britisches Beitrittsgesuch auf den Tisch bekommen?
Vorhersagen mögen schwer sein. Aber nach menschlichem Ermessen wird das nicht in vorhersehbarer Zeit passieren.

"Wir brauchen ein starkes und einiges Europa"

Alle reden vom großen Chaos, das am Tag nach dem Brexit droht. Aber das sind ja Dinge, die man in den Griff bekommen wird. Worin besteht der eigentliche langfristige Schaden durch den Brexit?
Sie haben recht. Mit den ökonomischen Folgen kann man umgehen, so bitter sie auch sein werden. Das tiefere politische Problem besteht in der Gefahr, dass wir uns als EU bald in einer Lage wiederfinden könnten, in der wir auf uns alleine gestellt sind. Oder wo wir feststellen müssen, dass wir mit unseren Vorstellungen von der Lösung der globalen Herausforderungen keine Partner mehr finden. Der Verlust eines so großen und wichtigen Landes wie Großbritanniens verringert das internationale Gewicht der EU massiv.

Ein geschwächtes Europa wäre da weitgehend hilflos?
Wir brauchen ein starkes und einiges Europa. Die These, wir hätten uns mit der Erweiterung nach Osten 2004 sowie in den folgenden Jahren übernommen, ist falsch. Denn die vorliegenden Analysen zeigen eindeutig, dass eine EU-Mitgliedschaft das beste Instrument ist, um Frieden und Sicherheit zu schaffen und wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu garantieren.

Bei einer größeren EU denken Sie ja - bei allem Respekt vor diesen kleineren Staaten - nicht an Albanien oder Bosnien. Wer kommt denn als Partner infrage, um so ein starkes Europa zu schaffen?
Die EU steht allen offen, die die Bedingungen erfüllen wollen und können. Das ist klar. Ich glaube aber nicht an ein Integrationsmodell, bei dem die EU irgendwann von Lissabon bis Wladiwostok reicht. Wichtig wären kooperative Strukturen zwischen Ländern oder Regionen - ich denke beispielsweise an eine Partnerschaft zwischen der EU und der Eurasischen Union, die uns außerdem Zentralasien öffnen würde. Gesamteuropäische Kooperation auf allen Gebieten ist keine Träumerei. Sie wurde in Paris 1990 auf die Tagesordnung gesetzt, aber bisher nicht eingelöst. Die EU sollte hier zum Motor werden.

"Großbritannien könnte künftig sehr allein sein"

Hat in diesem Modell ein Vereinigtes Königreich, das wieder das alte Empire sein will, einen Platz?
Diejenigen, die den Briten etwas von einem neuen Empire erzählen, sind entweder Zyniker oder Fantasten. Künftig könnte Großbritannien in bestimmten Fragen sehr allein sein. Oder es könnte zu einem noch abhängigeren Vorposten der USA werden. Nichts davon ist aus EU-Sicht wünschenswert. Es liegt in unserem Interesse, dass Großbritannien und die EU eine engstmögliche Partnerschaft entwickeln.

Lesen Sie hier: Das Brexit-ABC - Von A wie Artikel 50 bis Z wie Zollunion