Politik

Ruud Koopmanns über Migration: "Das macht Europa attraktiv"

Fachkräfte aus dem Ausland werden gesucht - doch kommen die nach Deutschland? Viele gehen lieber woanders hin, sagt ein Experte.


Deutschland braucht Fachkräfte. Europa zieht auch viele Zuwanderer an - jedoch seltener die höher Qualifizierten, sagt der Berliner Professor Ruud Koopmans.

Deutschland braucht Fachkräfte. Europa zieht auch viele Zuwanderer an - jedoch seltener die höher Qualifizierten, sagt der Berliner Professor Ruud Koopmans.

Von Martina Scheffler

AZ-Interview mit Ruud Koopmans: Koopmans, geboren 1961 in den Niederlanden, ist Professor für Soziologie und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin und seit 2007 Direktor der Forschungsabteilung "Migration, Integration, Transnationalisierung" am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.i

AZ: Herr Professor Koopmans, Wirtschaft und Politik fordern, Deutschland brauche pro Jahr die Zuwanderung von 400 000 Arbeitskräften aus dem Ausland. Kann das Entlastung für den Arbeitsmarkt bedeuten?

RUUD KOOPMANS: Dass Arbeitgeber auf mehr Migration drängen, ist nichts Neues. Das hatten wir schon zur Zeit der Gastarbeiter-Anwerbung. Das Muster wiederholt sich: Arbeitgeber sind sehr daran interessiert, die Zuwanderung zu vergrößern. Im Herbst 2015 drängten sich die Vertreter der Arbeitgeber geradezu in den Medien, um zu verkünden, wie gut es für die deutsche Wirtschaft sei, dass so viele neue Leute zu uns kommen, und dass man sie im Kampf gegen den Fachkräftemangel und gegen die Folgen der demografischen Wende braucht. Tatsächlich hat die Wirtschaft einen Teil der Zuwanderer eingestellt, aber den größeren Teil nicht. Für die Wirtschaft ist das trotzdem ein großer Vorteil. Und für die Gesellschaft?
Aus Sicht der Gesamtgesellschaft stellt sich die Frage anders. Auch das war schon früher so: Als es der Wirtschaft nicht mehr gut ging, gerade den Branchen, in denen viele Gastarbeiter tätig waren, wurden viele von ihnen arbeitslos. Die Lasten wurden von der Allgemeinheit getragen, nicht von den Arbeitgebern. So war es auch bei den Flüchtlingen, die 2015/16 kamen. Was man nicht vergessen darf: Wir haben schon ein massives Programm zur Wirtschaftszuwanderung: die Europäische Union. Das heißt Binnenmarkt, Freizügigkeit von Arbeitnehmern. Es hat vor allem im letzten Jahrzehnt eine massive Zuwanderung von Fachkräften nach Deutschland gegeben: etwa aus Italien, Polen, Rumänien, Bulgarien. Das deckt einen nicht unerheblichen Teil des Fachkräftebedarfs in Deutschland.

Ruud Koopmans

Ruud Koopmans

Welche Auswirkungen hätte die Zuwanderung von 400 000 Arbeitskräften pro Jahr für Gesellschaft, Bildung, Teilhabe und Armut?

Das bedeutet etwa, dass 400 000 Menschen mehr eine Wohnung brauchen. Das Gesundheitssystem muss den Bedarf decken. Für die Kinder sind Plätze an Schulen notwendig. Zudem würde die Zuwanderung relativ geballt in Großstädte erfolgen, was dort den Druck auf den Wohnungsmarkt vergrößern wird. Das wird die Preise in die Höhe treiben und hat somit Konsequenzen für die ansässige Bevölkerung. Diese Folgen werden mehr von den schwächeren Gruppen der ansässigen Bevölkerung getragen werden. Dies konnte man etwa in Berlin bereits beobachten. Das macht das Leben nicht einfacher für die, die schon da sind. Migration ist immer auch mit Kosten verbunden und hat Verteilungseffekte.

Könnte, nach den weitgehend gescheiterten Versuchen mit deutscher Green Card und den ebenfalls unerfüllten Prognosen von Fachkräftezuwanderung aus Bulgarien und Rumänien, eine tatsächliche Fachkräftezuwanderung auch zu einer höheren Akzeptanz von Migration insgesamt führen?

Das würde natürlich helfen. Wir haben bisher in Deutschland und Europa, wenn wir über Migration von außerhalb der EU reden, eine Zuwanderung vor allem von niedrig gebildeten Menschen mit einer sehr schwierigen und langsamen Integration in den Arbeitsmarkt und einer sehr hohen Abhängigkeit von Sozialleistungen. Das macht die Akzeptanz von Migration nicht einfacher. Etwa in Kanada und Australien ist die Migration dominiert von qualifizierten Zuwanderern, die gut in den einheimischen Arbeitsmarkt integriert werden können und damit auch ökonomisch einen positiven Beitrag zur Gesellschaft leisten. Die Akzeptanz von Zuwanderung ist in diesen Ländern deutlich höher als in Europa.

Wird möglicherweise dort die Diskussion darüber, welche Art von Migration man möchte, offener geführt als in Deutschland?

Es ist eine ganz andere Problematik. Die Probleme, die uns in Europa beschäftigen, stellen sich in diesen Ländern gar nicht. In Europa wird die Zuwanderung von außerhalb der EU zu über 90 Prozent dominiert von irregulären Migranten, die nicht hierherkommen wegen ihrer Arbeitsmarktqualifikation, sondern meistens als Flüchtlinge, als Asylbewerber, und die auch, wenn sie als Asylbewerber nicht anerkannt werden, meistens hierbleiben, weil sie nicht abgeschoben werden können. Das ist eine Gruppe, die nur sehr schwer in den Arbeitsmarkt zu integrieren ist. Kanada hat das Privileg, dass es nicht mit dieser ungesteuerten Migration zu kämpfen hat, sondern proaktiv sagen kann: Wir haben diesen Bedarf an Ärzten, wir brauchen eine bestimmte Zahl an Krankenschwestern.

Warum kann Deutschland das nicht so steuern?

Das hat in allererster Linie mit der geografischen Lage von Europa zu tun. Kanada, USA und Australien grenzen nicht direkt an die Armuts- und Kriegsregionen der Welt. Europa grenzt direkt an Afrika, den Nahen Osten und auch direkt an die Ukraine.

"Für Hochqualifizierte ist ein Land wie
die USA attraktiver"

Gibt es noch andere Gründe?

In Europa haben wir relativ egalitäre Gesellschaften, Wohlfahrtsstaaten mit einer vergleichsweise egalitären Einkommensverteilung, mit vergleichsweise hohem Steuerdruck und Druck durch Sozialabgaben. Für hochqualifizierte Migranten, den sprichwörtlichen indischen Computeringenieur, ist es attraktiver, in ein Land wie die USA auszuwandern, weil sie da mehr Geld verdienen können und weniger Steuern zahlen müssen als in den meisten europäischen Ländern. Umgekehrt ist es für niedrig qualifizierte Migranten nicht sehr attraktiv, in die USA zu gehen, weil es dort keine guten Sozialversicherungssysteme gibt. Wer wenig Geld hat, bekommt dort keine gute Gesundheitsversorgung und kein gutes Bildungssystem für die Kinder. In Europa erhalten Sie das sogar noch als Arbeitsloser. Das macht Europa attraktiv für Migranten, die für uns, wirtschaftlich gesehen, wenig interessant sind, und weniger attraktiv für die Hochqualifizierten, die wir eigentlich gerne anziehen möchten.

Können wir also überhaupt so viele Arbeitskräfte, 400 000 im Jahr, bekommen?

Die Zahl kann man schaffen, aber die spezifische Nachfrage, die es in bestimmten Berufszweigen gibt, ist schwieriger zu bedienen. Ingenieure, Ärzte - da könnte das schwierig sein. Bei mittlerer Qualifikation und in Berufen ohne Qualifikation gibt es Abermillionen, die gern nach Europa kommen möchten. In Nigeria etwa, wo viele ein relativ gutes Bildungsniveau haben und die meisten Englisch sprechen, gibt es ein großes Potenzial an Menschen, die man in den deutschen Arbeitsmarkt integrieren könnte.

Was würden mehr Ungelernte für den Arbeitsmarkt und auch die Gesellschaft bedeuten - wirklich eine Entlastung?

Aus Sicht der Arbeitgeber schon, aus gesamtgesellschaftlicher sicher nicht. Es gibt einige Millionen Arbeitslose in Deutschland und viele Flüchtlinge, die in den letzten zehn Jahren gekommen und noch nicht in den Arbeitsmarkt integriert sind - da gibt es ein riesengroßes Potenzial von unqualifizierten Arbeitskräften, die noch für den Arbeitsmarkt zu gewinnen wären. Das Problem: Sowohl für Arbeitslose mit als auch ohne Migrationshintergrund sind die Anreize, niedrig qualifizierte und dadurch niedrig entlohnte Arbeit anzunehmen, nicht groß. Bevor wir niedrig und unqualifizierte Zuwanderer anwerben, müsste man erstmal diejenigen, die schon hier sind, besser in den Arbeitsmarkt integrieren. Wenn man zudem auf Auswanderer aus vor allem muslimisch geprägten Kulturkreisen setzt, muss man eines bedenken: Nicht nur sind die Männer weniger gut in den Arbeitsmarkt integriert als andere Zuwanderer. Aber vor allem ist der Unterschied bei den Frauen sehr groß. Man muss davon ausgehen, dass sie mehrheitlich nicht auf dem Arbeitsmarkt aktiv werden und dies das Potenzial von solcher Zuwanderung, die demografischen Herausforderungen zu meistern, auf längere Sicht erheblich schmälern wird. Wenn in solchen Familien nur eine Person Steuern und Sozialabgaben zahlt, ist der Beitrag zur Sicherung der Sozialsysteme deutlich geringer, als wenn beide Partner arbeiten.