Leitartikel

Politik

Perspektivwechsel


Die Kardinäle haben also Ernst gemacht mit den drei entscheidenden Sehnsüchten, die in den letzten Jahrzehnten in der katholischen Weltkirche immer erkennbarer wurden. Zum Ersten: die Rückbesinnung auf die Evangelientexte, deren Verkündigung auch in unsere Zeit passt und darin vor allem die sozialen Fragen, die diese Texte wie ein roter Faden durchziehen. Zum Zweiten: die Hinwendung zu dem Kontinent, wo der Glaube in Unmittelbarkeit und Leidenschaft in anderer Form gelebt wird als hier in Europa. Und zum Dritten: eine weitere Festschreibung der unnachgiebigen Sichtweise in Fragen der Sexualmoral und des Zusammenlebens von Paaren und Lebensgemeinschaften. Diese Wendung, die doch auch eine Fortsetzung der Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist, hatte sich längst angekündigt. In seiner abendlichen Freiburger Ansprache hatte Papst Benedikt die Armut als Leitmotiv christlichen Denkens und Lebens in den Mittelpunkt gestellt. Der ehemalige Bischof Gerhard Ludwig Müller aus Regensburg war einerseits Freund der Befreiungstheologie, andererseits aber ein stahlharter Traditionalist in anderen entscheidenden Fragen von Glaube und Kirche. Und Kardinal Reinhard Marx ist zwar einerseits ein erzkonservativer Vertreter seiner Spezies, auf der anderen Seite aber hat er ein hoch engagiertes Buch über die soziale Frage geschrieben.

Der neue Papst, der ein Freund des alten Papstes ist, trägt ebenfalls diese beiden Gesichter, sodass es auch den Europäern möglich wurde, ihn zu wählen. Hatte Joseph Ratzinger in seinen Büchern und Predigten den Glauben vor allem als Absage an den Zeitgeist definiert, unter dem er aber auch alles subsumierte, was einem idealen Glaubensleben widersprach, so geißelt der neue Papst durchaus aggressiv die Auswüchse einer modernen und postmodernen Welt, die natürlich im Widerspruch steht zu den radikalen Lebensprinzipien, wie sie sich aus der Exegese der Evangelientexte gewinnen lassen. Dass die radikale Absage an alle Kompromisse, die Menschen aus ihren Bedürfnissen heraus entwickeln, um leben und lieben zu können, aber auch etwas Unmenschliches in sich trägt, das wird aller Voraussicht nach den neuen Papst nicht sonderlich kümmern. Zeigte der alte Papst diesen Lebensformen noch die kalte Schulter, so wendet sich der neue Papst dagegen schlicht den Fragen zu, die für ihn die Zukunft der Welt und der Kirche bedeuten, und das werden vor allem die Verkündigung des Evangeliums und eine Veränderung des weltweiten sozialen Unrechts sein.

Hinter den Gesten der Bescheidenheit, mit denen der neue Papst seinen Weg in Rom beginnt, steht einerseits die von vielen bejubelte Absage an den Prunk des Vatikans, der längst unerträglich geworden ist, auf der anderen Seite aber auch ein höchst bewusster Führungsanspruch, dessen Härte gerade in den Demutsgesten spürbar wird. Ob dieser Papst, der in Argentinien einerseits als Anwalt der Armen von vielen verehrt wird, von Menschenrechtsanwälten aber auf der anderen Seite für seine Rolle in der Militärdiktatur vor über dreißig Jahren und den späteren Umgang mit dieser Rolle noch heute hart kritisiert wird, die Sprache der Liebe so finden wird, dass die Menschen ihm glauben und folgen, das ist die Frage, die nur die jetzt kommenden Jahre beantworten können.

Zu sagen ist auch, dass selbst der Papst nur ein Mensch ist. In der Zuspitzung auf dieses Spitzenamt der katholischen Kirche, wie es die Medien gerade wieder über Tage sichtbar und hörbar gemacht haben und die vor allem von den evangelischen Christen immer kritisch gesehen wird, liegt einerseits die Chance, dass eben einer gehört wird, aber auch die Gefahr einer Überhöhung dieses schwierigen Papstamtes, das doch über Jahrhunderte auch von vielen Päpsten missbraucht wurde. Die Kirche hat immer von den vielen gelebt, die als einfache Arbeiter im Weinberg des Herrn, ob als Priester oder Mönche, nicht so sehr beachtet den Glauben durch die Zeiten getragen haben. Dass ein lateinamerikanischer Papst mit seiner ganz anderen Geschichte aus einer ganz anderen Kultur für uns in Europa einen Perspektivenwechsel bringen kann, der fruchtbar wird, ist das eine. Es wird aber auch darauf ankommen, dass die Kirche in Deutschland die Fragen, Probleme und
Nöte, vor die unsere Kultur die Menschen stellt, ernst nimmt und Angebote macht, die zur Hilfe werden für die, die hier bei uns in seelischer Not sind.

Für die Jesuiten freilich ist ein Papst aus ihren Reihen eine ungeheure Chance. Der Blick wird sich richten auf das, was gerade die Jesuiten einzubringen haben in unsere immer schnellere Welt. Es ist vor allem "die Unterscheidung der Geister", die
Ignatius von Loyola vor fast 500 Jahren auf seinem Krankenbett als psychisches Prinzip fand. Ignatius fand damals heraus, dass beim Durchdenken von Vorstellungen das Gute und Heilige in ihm eine bessere Wirkung auf seine wahre Psyche hatte als vordergründige Vergnügungen. Dieses Erleben und Entdecken seiner eigenen Innenwelt macht ihn für unsere Zeit so modern. Während Sigmund Freud erst vor 100 Jahren die Vielschichtigkeit des Unbewussten entdeckte und wissenschaftlich grundlegte, erlebte und entwickelte der heilige Ignatius die Komplexität unserer psychischen Welt schon 400 Jahre vorher. Solche Entdeckung der Innenseite unseres Seins aber tut unserer kalten Welt von heute not. Der durch Konsum- und übersteigerten Leistungsgedanken entfremdete moderne Mensch muss sich selbst wiederfinden. Während die Benediktiner immer hoch im Kurs standen und ihr Beitrag für unsere Gesellschaft bei vielen Veranstaltungen zum Tragen kommt, mussten die Jesuiten in den letzten Jahren schwer um Aufmerksamkeit kämpfen. Dass jetzt ihre Stärken und Traditionen wieder in den Vordergrund gerückt werden, ihre Intellektualität, ihr Wissen, ihre philosophischen Traditionen und Möglichkeiten, ist für sie selbst, aber auch für die Gesellschaft eine Chance. Dass Heilung von Krankheit und Not in der ganzen Welt Aufgabe des Christen ist, ist ein wesentlicher Impuls, den der neue Papst nicht nur von Franz von Assisi, sondern auch vom heiligen Ignaz in sich trägt.

Aber auch die Radikalität hat er von dort geerbt. Denn Ignaz war es wichtig, dass der Christ bei der Seelenläuterung bis zum äußersten Punkt des Schmerzes über seine Schuld und bis zur bittersten Reue gebracht würde. Nicht um vorschnelle seelische Entlastung für den Sünder ginge es primär, sondern um radikalen Neubeginn des Lebens aus dem Geiste Christi. Um das zu erreichen, solle sich der umkehrende Sünder die schlimmsten Bilder von Höllenstrafen vorstellen, bis er wirklich reif sei für die Umkehr in ein neues, besseres Leben. Viele Menschen aber können eine solche Härte nicht aushalten. Sie mag der Königsweg sein im Leben des Heiligen. In unserer Welt aber darf die "Liebenswürdigkeit des Christentums" nicht vergessen, dass auch kleine Schritte am Ende einen guten Weg beginnen können.