Ein Jahr nach Christchurch

Miriam Heigl: "Bedrohungslage durch Rechtsextreme ist erheblich"


15. März 2019: Rettungskräfte versorgen nach dem Massaker außerhalb der Masjid-Al-Noor-Moschee einen Verletzten.

15. März 2019: Rettungskräfte versorgen nach dem Massaker außerhalb der Masjid-Al-Noor-Moschee einen Verletzten.

Von Guido Verstegen / Online

Am 15. März 2019 tötet ein 28-jähriger Rassist in Neuseeland 51 Muslime. Er findet Nachahmer - auch in Deutschland. Was wir daraus lernen.

Genau ein Jahr ist es am Sonntag her, dass in einer kleinen Stadt am anderen Ende der Welt ein rechtsextremer Terrorist in einer Moschee ein Blutbad angerichtet hat. Das Attentat im neuseeländischen Christchurch kostete 51 Muslime das Leben und erschütterte das Land. Seit dieser Tat gab es auch in Deutschland immer wieder rechte Anschläge: Walter Lübcke, Halle, Hanau.

Wie hängen diese Taten zusammen? Und wie groß ist die Bedrohung durch rechten Terror? Ein Gespräch mit Expertin Miriam Heigl - die studierte Politologin und Sozialwissenschaftlerin leitet die Fachstelle für Demokratie in München.

AZ: Frau Heigl, zum ersten Mal jährt sich das Attentat von Christchurch. Was löst das bei Ihnen aus?
MIRIAM HEIGL: Der Jahrestag bringt noch einmal die Gedanken an diesen entsetzlichen Terroranschlag zurück und an die Bedrohung, der unsere Gesellschaft ausgesetzt ist durch Rassismus, Antisemitismus und die Radikalisierung von Menschen aufgrund von rechtsextremen Ideologien.

Seitdem gab es mehrere Attentate auch bei uns. War Christchurch der Beginn einer rechten Terrorserie?
Man muss den Anfangspunkt dieser Serie mindestens zum Attentat von Anders Breivik 2011 in Norwegen zurückverlagern. Zum ersten Mal hatte man einen rechten Täter, der sich zwar auch im Rahmen einer Parteimitgliedschaft, aber auch maßgeblich im Internet radikalisiert hat.

Studierte Politologin und Sozialwissenschaftlerin: Miriam Heigl.

Studierte Politologin und Sozialwissenschaftlerin: Miriam Heigl.

Heigl: Das ist das Muster der Anschläge von Christchurch, Halle und Hanau

Was verbindet die rechten Attentäter miteinander?
Bei den Attentaten der letzten Jahre sehen wir, dass eine Erzählung eine große Rolle gespielt hat, die in der rechtsextremen und verschwörungstheoretischen Szene sehr häufig genutzt wird: die Vorstellung vom großangelegten Bevölkerungsaustausch. Im Verständnis dieser Verschwörungsfantasie, die mittlerweile auch in deutschen Parlamenten propagiert wird, sind die Migrationsbewegungen der letzten Jahre ein gezieltes Projekt vermeintlicher Eliten oder geheimer Mächte, um die einheimische Bevölkerung auszutauschen. Häufig wird diese Verschwörungsfantasie antisemitisch aufgeladen. Jüdinnen und Juden, die dafür verantwortlich sein sollen, werden in der Folge ebenso zum Anschlagsziel wie Geflüchtete, Muslime oder Politiker, die sich für die Aufnahme von Geflüchteten einsetzen. Dieses Muster sehen wir beim Anschlag von Christchurch, beim OEZ-Attentat, in Halle, Hanau und dem Mord an Walter Lübcke.

Die Attentäter haben ihre Taten teils live gestreamt und Manifeste ins Netz gestellt. Was bezwecken sie damit?
Bei diesen Taten handelt es sich um rassistische, antisemitische und antifeministische Botschaftstaten. Es sind vorurteilsmotivierte Taten gegen Menschen, die die Täter bestimmten Gruppen zuordnen. Und Botschaftstaten funktionieren nur, wenn sie auch transportiert werden. Dafür eignet sich das Netz natürlich gut. Das Perfide ist: Die Botschaft erreicht nicht nur die Menschen, die direkt betroffen sind, sondern alle, die sich der Gruppe oder Minderheit zugehörig fühlen oder von außen immer wieder dort zugeordnet werden.

Und was bewirkt das?
Verunsicherung und das Gefühl, nicht ausreichend geschützt zu sein vor Vorurteilen und Gewalt. So hat etwa Christchurch Muslime auch in München unglaublich verunsichert. Jemand, der nicht muslimischen Glaubens ist, wird vielleicht denken: Neuseeland ist weit weg. Jemand, der freitags zum Gebet geht und diese Bilder gesehen hat, kriegt Angst - obwohl er weiß, dass das Attentat in Neuseeland war.

13. März 2020: Frauen umarmen sich bei ihrer Ankunft zum Freitagsgebet in einer Moschee in Christchurch.

13. März 2020: Frauen umarmen sich bei ihrer Ankunft zum Freitagsgebet in einer Moschee in Christchurch.

Heigl: Radikalisierung der Täter im gesellschaftlichen Kontext

Ist für Sie klar, dass die Taten in Bezug zueinander stehen?
Von der ideologischen Begründung auf jeden Fall. Und auch, weil einzelne Attentäter immer wieder aktiv aufeinander Bezug genommen haben. So fand etwa das OEZ-Attentat in München am fünften Jahrestag des Breivik-Attentats statt. Das ist kein Zufall.

Trotzdem konnte man zuletzt bei Hanau beobachten, dass einige Politiker den Täter schnell als psychisch krank darstellten und damit das rassistische Motiv in den Hintergrund drängen wollten.
Klar ist, dass sich psychische Beeinträchtigungen und rassistische Motive nicht gegenseitig ausschließen. Die Radikalisierung der Täter findet ja immer in einem gesellschaftlichen Kontext statt. Und auch bei psychisch kranken Tätern stellt sich dann die Frage, warum sie ihre Opfer nach rassistischen oder antisemitischen Kriterien auswählen. Sobald ein gesellschaftlicher Bezug - wie ein rassistisches oder antisemitisches Motiv - erkennbar ist, muss dieser auch benannt und die Tat auch nach den polizeilichen Definitionskriterien entsprechend eingeordnet werden. Auch für die angegriffenen Gruppen ist es wichtig, dass der Botschaftscharakter der Tat erkannt und ernst genommen wird. Wenn einzelne Politiker nun die psychische Störung als alleine ausschlaggebend in den Vordergrund stellen, geht es ihnen darum, den Rassismus auszublenden, um selbst weiterhin menschenverachtende, rassistische und antisemitische Parolen verbreiten zu können.

Gibt es ein globales rechtes Terrornetzwerk?
Im klassischen Sinne, wie ein Netzwerk lange Zeit von den Sicherheitsbehörden gedacht wurde, nein. Denn dabei denkt man an Mitgliedsausweise von bestimmten Organisationen. Im Sinne eines sehr losen, diffusen Netzwerks, in dem sich potenzielle Täter gegenseitig bestärken und radikalisieren, aber offensichtlich schon.

Heigl: "Haben eine erhebliche Bedrohungslage"

Ist die Bedrohung, auch dadurch, dass sich diese Szene im Internet vernetzten kann, größer geworden?
Ich glaube, die Grundlage für eine rechtsextreme Radikalisierung und das anmaßende Gefühl, man müsse jetzt handeln, weil der Staat es nicht tut, ist immer eine gesellschaftliche Debatte. Die hat sich in jüngster Zeit weit nach rechts verschoben. Das Netz ist Ausdruck einer gesellschaftlichen Entwicklung und verstärkt diese gleichzeitig.

Wie groß ist die Bedrohung durch rechten Terror?
Wenn wir sehen, dass in den letzten neun Monaten in Deutschland 13 Menschen von rechtsextremen Tätern ermordet wurden, dann haben wir auf jeden Fall eine erhebliche Bedrohungslage. Wir erleben eine dramatische Häufung von rechtsextremen Terrorakten und es ist wichtig, dass wir endlich erkennen, dass Menschen sich sehr schnell radikalisieren können und man dem gesellschaftlich und sicherheitspolitisch Einhalt gebieten muss.

Heigl: Präventive Maßnahmen gegen Rechtsextremismus stärken

Ist das aus Ihrer Sicht bisher ausreichend geschehen?
Die Frage ist immer die der Nachhaltigkeit. Nach jeder neuen Tat sind zwar die Überraschung und das Entsetzen groß, die politischen Antworten jedoch oft unzureichend. So wichtig sicherheitspolitische Lernprozesse aus solchen Taten sind, so wichtig ist auch die Auseinandersetzung mit der gesellschaftspolitischen Dimension, die diese haben. Solch gravierende Anschläge erfordern auf jeden Fall eine intensive Nachbearbeitung auf allen politischen Ebenen. Es klingt, als wären Sie nicht sicher, dass das der Fall ist. Häufig wird zum Beispiel sehr schnell über Gesetzesverschärfungen oder mehr Personal für die Sicherheitsbehörden gesprochen. Das kann an einzelnen Stellen auch durchaus sinnvoll sein. Tatsächlich haben wir in der Praxis aber oft noch erhebliche Fragen bei der Umsetzung von schon bestehenden Regelungen. Mehr Schulungen für Staatsanwälte, Richter, Polizisten oder Bedienstete in Waffenbehörden wären hier zum Beispiel ein guter Schritt, damit eine Null-Toleranz-Linie auch im Arbeitsalltag zum Tragen kommen kann. Daneben gilt es, präventive Maßnahmen und zivilgesellschaftliche Strukturen gegen Rechtsextremismus zu stärken.

Was wäre Ihre Strategie, um Taten wie Christchurch oder Hanau zu verhindern?
Es wäre vermessen zu sagen: Ich weiß, wie solche Taten auf jeden Fall zu verhindern sind. Was wir aber tun können, ist, unsere Gesellschaft sensibler zu machen für rechtsextreme, rassistische oder antisemitische Radikalisierungsprozesse. Wir erleben gerade, dass es einen starken Beratungsbedarf von Einrichtungen und Unternehmen gibt, die gerne ihre Strukturen fit machen wollen für die Abwehr von Rassismus und Antisemitismus. Das ist ein ganz wichtiger Bereich. Denn je bessere Strukturen wir haben, um frühzeitig Probleme zu erkennen, desto eher haben wir die Chance, auf Radikalisierungen aufmerksam zu werden.

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