AZ-Interview mit dem Juso-Chef

Kühnert: "Die Personalie von der Leyen ist eine herbe Belastung"


Juso-Chef Kevin Kühnert stellte sich den Fragen der AZ.

Juso-Chef Kevin Kühnert stellte sich den Fragen der AZ.

Von André Wagner

Kevin Kühnert hält den Poker um das Amt des EU-Kommissionspräsidenten für ein abgekartetes Spiel. Was das für die GroKo bedeutet, und was ihm lieber wäre als der SPD-Chefposten, erklärt er im Interview mit der AZ.

München - In München haben sich am Wochenende 600 Jusos zum "Linkswende-Kongress" getroffen. Zeit, für ein AZ-Gespräch mit dem Vorsitzenden, Kevin Kühnert.

AZ: Herr Kühnert, man wirft Ihnen vor, Ihre radikalen Thesen - Stichwort BMW - hätten der SPD enorm geschadet. Sie haben in Ihrer Eröffnungsrede auf dem Juso-Kongress in München jetzt jegliche Radikalität von sich gewiesen. Wie passt das zusammen?
KEVIN KÜHNERT: Die Möglichkeit der Kollektivierung steht im Grundgesetz, damit ist über die Radikalität alles gesagt. Wir sind zu einer sehr schnappatmigen Gesellschaft geworden, in der alles, was nicht 100-prozentig in den Status quo hineinpasst, sofort als ganz üble Abweichung disqualifiziert wird. Die Wahrheit ist doch, dass der Verkehrsminister das ganze Jahr über Kollektivierung betreibt, zum Beispiel, wenn es darum geht, für Autobahnen und Bundesstraßen Land von Agrarbetrieben zu nehmen. Insofern ist das eine verlogene Diskussion.

Gerade hat auch die neue Bundesjustizministerin Christine Lambrecht Enteignungen großer Immobilienkonzerne als letztes Mittel gegen die Wohnungsnot ins Spiel gebracht. Freut Sie das?
Ich freue mich, dass sie diesen Akzent setzt. Ich würde mich aber auch wundern, wenn eine Bundesjustizministerin, die unser Rechtswesen zu verteidigen hat, etwas anderes von sich geben würde.

Sind in der heutigen Zeit radikale Lösungen notwendig?
Vielleicht nicht in jeder einzelnen Frage. Aber bleiben wir beim Beispiel Wohnen: Die Forderung nach der Enteignung von "Deutsche Wohnen", "Vonovia" und anderen Wohnungskonzernen ist in Berlin nicht von der Politik aufgeworfen worden. Sie ist aus der Stadtgesellschaft heraus gerkommen und hat dort großen Rückhalt. Nicht, weil die alle Kreuzberger Linksradikale sind, sondern weil sie auf dem Kontoauszug sehen, dass das alles nicht mehr lange gut geht. Das heißt: Die Verhältnisse in denen wir leben sind häufig radikal und die Leute merken, dass das mit ein bisschen Kosmetik nicht wieder ins Lot kommt. Dann startet die Suche nach größeren Antworten - ja.

Kühnert: "München und Berlin teilen eine Herausforderung"

Wäre ein Volksbegehren wie in Berlin auch ein Modell für München?
München und Berlin teilen eine Herausforderung miteinander: Sie brauchen Neubau. Eine andere Verteilung des bestehenden Wohnraums allein ist in einer gewachsenen Stadt nicht die Lösung des Problems. Die Stärke auf dem Münchner Wohnungsmarkt ist, dass man mit fast 20 Prozent Genossenschafts- und öffentlichen Wohnungsbauanteilen schon ein ganz gutes Pfund in der Hand hat. Das ist zwar noch nicht genug, um das Problem aufzulösen. Aber es ist eine Säule, die München bewusst aufbaut und auf die man setzen sollte. München hat hier über lange Zeit viel klüger agiert als andere Städte.

Nun zu Ihnen. Gesine Schwan hat sich und Sie als Kandidaten-Duo für den SPD-Vorsitz ins Spiel gebracht. Auch Frau Schwan nimmt am Juso-Kongress teil. Feilen Sie bereits an Ihrer gemeinsamen Strategie?
Gesine Schwan hat einfach mal einen Stein ins Wasser geworfen und Bewegung ins Spiel gebracht. Das finde ich großartig. Aber letztlich bleibt es dabei: Wir haben darüber gar keine Gespräche geführt. Sie ist jetzt hier, weil wir sie vor Monaten angefragt haben. Ich nehme sie so wahr, dass sie sehr entschlossen ist, zu kandidieren. Ich teile mit ihr den Wunsch, dass die Entscheidung für die neue Spitze zu einer Richtungsentscheidung wird, aber ich kenne auch deutlich mehr als zwei Personen in der SPD, die das verkörpern könnten.

Sie wollen erst Urlaub machen und in Ruhe über alles nachdenken. Was wägen Sie ab?
Am wichtigsten ist für mich, dass am Ende ein Ergebnis steht, das der SPD inhaltliche Klarheit verschafft. Und ich möchte, dass die Mitglieder eine Auswahl haben zwischen verschiedenen Personen, die für verschiedene Konzepte stehen. Deshalb müssen wir alle in den nächsten Wochen schauen, ob Kandidaturen zustandekommen, die das erfüllen - oder ob das Ganze Schlagseite hat. Sind es doch überwiegend bekannte Gesichter, die nicht unbedingt für eine Erneuerung stehen? Danach muss jeder für sich bewerten, ob er in den Prozess mitreingeht, um Auswahl zu ermöglichen - oder ob da so gute Leute dabei sind, dass man diese unterstützt.

Wer müsste kandidieren, damit Sie es nicht tun? Man hört, es gibt jemanden, den Sie gerne ermutigen würden. Wer ist das?
Das wissen alle beteiligten Personen und das reicht auch.

Kühnert: "Ich möchte, dass die Leute an der SPD-Spitze auf der Höhe der Zeit sind"

Geben Sie uns einen Tipp!
Ich möchte, dass die Leute an der SPD-Spitze auf der Höhe der Zeit sind, was Megatrends wie Digitalisierung oder Klimawandel betrifft, und dass sie glasklar machen, dass sie sich die SPD als Gemeinwohl-Partei vorstellen. Der soziale Zusammenhalt in der Gesellschaft muss immer Vorrang haben gegenüber Einzelinteressen, ob es nun Profitstreben ist, persönliches Vorankommen oder Grund- und Boden-Besitz. Da muss es wieder eine klare Priorisierung geben. Ansonsten geht es um menschliche Qualitäten. Rund um den Rücktritt von Andrea Nahles haben wir doch gesehen: Wenn es zwischen den handelnden Personen nicht ein erhebliches Maß an Vertrauen gibt - was nicht heißt, immer einer Meinung zu sein -, kann man es seinlassen. Deshalb brauchen wir Leute, die Unkompliziertheit mitbringen. Wir können uns jetzt nicht einen Haufen extravaganter Egos leisten.

Das klingt so, als könnten Sie sich gut mit dem Modell der Grünen anfreunden: Die haben die alte Garde in die zweite Reihe gesetzt und zwei unverbrauchte Gesichter an die Parteispitze gewählt.
Der Charme an Doppelspitzen ist, dass man mindestens eine Person reinholen kann, mit der nicht alle rechnen. Gesine Schwan zum Beispiel ist ja auch jemand, die nie für die SPD in einem Parlament oder in der Regierung saß, und trotzdem mit der SPD identifiziert wird. Die Probleme der letzten Jahre waren doch häufig davon geprägt, dass da eine nach Grundsätzlichem suchende Partei einer Gruppe von Leuten gegenübersah, denen vor allem die Nöte und Zwänge des Regierungshandelns präsent waren und dass sich das sehr unversöhnlich gegenüberstand.

Gibt es die GroKo noch, wenn Sie im Dezember Ihre Doppelspitze wählen?
Da spielen viele äußere Einflüsse rein: die Landtagswahlen im Osten, zum Beispiel, wo die CDU rumeiert, ob sie mit der AfD zusammenarbeiten würde. Außerdem habe ich den Eindruck, dass die Union zwar manchmal etwas disziplinierter ist als wir, dass es bei denen aber beinahe mehr rumort. Die CDU ist unter ihrer neuen Vorsitzenden in einem halben Jahr um zehn Prozentpunkte abgeschmiert. Da gibt es einen großen Autoritätsverlust. Und wir wissen auch nicht, wie diese Ursula-von-der-Leyen-Sache ausgehen wird; ob sie eine Mehrheit als Kommissionspräsidentin im EU-Parlament bekommen wird. Ich sehe die gerade nicht am Horizont.

Was ist gefährlicher für den Fortbestand der Koalition: die Wahlen im Osten oder die Personalie Ursula von der Leyen?
Diese Personalie ist eine herbe Belastung, weil das ein abgekartetes Spiel war. Auch wenn jetzt kolportiert wird, das sei Macrons Idee gewesen: Es braucht mir niemand zu erzählen, dass eine der mächtigsten Regierungschefinnen der Welt nicht Herrin der Prozesse ist, wenn jemand aus ihrem Kabinett plötzlich Kommissionspräsidentin werden soll. Die Ablehnung von meiner Parteispitze kam richtigerweise sofort. Bei unseren Europa-Abgeordneten nehme ich eine sehr klare Stimmung wahr, weil die in ihrer Rolle als Parlamentarier düpiert wurden. Die Fronten sind verhärtet. Annegret Kramp-Karrenbauer versucht nun, die nationale Karte zu spielen, und sagt, es sei gegen deutsche Interessen, Frau von der Leyen nicht mitzuwählen. Ich halte das für eine reichlich unpolitische Argumentation, weil allein davon, dass da irgendwer deutsches sitzt, haben wir gar nichts. Wir wählen schließlich Parteien und keine Personalausweise.

Kühnert: "Die Personalie von der Leyen ist eine herbe Belastung"

Und die SPD sitzt in der Zwickmühle: Blockieren die Brüsseler Genossen Frau von der Leyen, gelten sie als Spalter. Nicken Sie die CDU-Politikerin ab, gelten sie als Umfaller. Gibt es einen Ausweg?
Ja. Indem man bei seiner Haltung bleibt. Das kann nämlich nie falsch sein.

Also keine SPD-Stimmen für Frau von der Leyen?
Nö - weil die Abläufe indiskutabel waren. Das Spitzenkandidaten-Prinzip wurde mal eben beiseite gewischt. Außerdem hatte Frans Timmermans eine Mehrheit im Rat und die Osteuropäer, die sich da auf die Hinterbeine gestellt haben, hätten ihn nicht blockieren können. Die anderen haben deren Quengeln nachgegeben. Das ist ein ganz ungutes Signal, das deutlich macht: Wenn ihr nur laut genug ruft, kriegt ihr euren Willen. Dabei haben wir im Europawahlkampf noch gesagt, dass wir wegwollen vom Einstimmigkeitsprinzip, davon, dass der Langsamste das Tempo in Europa bestimmt und davon, dass Viktor Orbán bestimmt, was gemacht wird. Und jetzt verfallen wir wieder in diese alten Muster.

Wie geht das Kräftemessen Ihrer Meinung nach aus?
Schwer zu sagen. Im Moment ist Frau von der Leyen von einer Mehrheit wie gesagt ein ganzes Stück entfernt. Von der Leyen hat jetzt noch einige Tage Zeit eine Mehrheit der Abgeordneten zu überzeugen, was wohl höchstens über inhaltliche Zugeständnisse und eine deutliche Stärkung des Parlaments klappen könnte. Wenn nicht gilt "return to sender": Der Rat muss einen neuen Vorschlag machen.

Zum vielzitierten Thema Jugend: Sie sind gerade 30 Jahre alt geworden.
Mhm…

Oh, ein wunder Punkt?
Nee, wirklich nicht! Außerdem ist als Juso die wichtigere Altergrenze die 35 - dann ist man nämlich raus.

Wo sehen Sie sich dann?
In einem seeeehr langen Urlaub.

Kühnert: "Politiker sind keine Boxsäcke, auf die jeder draufhauen darf"

Jetzt im Ernst: Ist Jungsein in der Politik Vor- oder Nachteil?
Bis vor Kurzem war es ein massiver Nachteil. Nicht, weil die Leute zu blöd oder zu unerfahren waren, sondern weil sie abgestempelt wurden. Aber die Jugendbewegungen der letzten Jahre - von Fridays for Future bis #metoo - haben dazu beigetragen, dass junge Menschen in der öffentlichen Debatte sehr präsent geworden sind. Das hat zu einer Entkrampfung geführt.

Hass und Hetze im Netz sind ein Thema, das auch viele junge Menschen betrifft. Man hat das Gefühl, die Politik bekommt es nicht in den Griff. Haben Sie einen Lösung?
Da gibt es keine einfachen Lösungen. Aber jeder sollte darauf achten, ob er nicht auch ein bisschen verroht online. Ich erwische mich manchmal dabei, einen Kommentar nicht abzuschicken, weil ich das von Angesicht zu Angesicht so nicht sagen würde. Manchmal kommt eine unnötige Schärfe rein, die man sich sparen kann. Ansonsten blocke ich Leute ganz konsequent - weil ich denen erstens nicht meine Reichweite für ihre Hetze schenken möchte. Und weil ich zweitens finde, dass sich das niemand bieten lassen muss, auch Politiker nicht. Wir sind keine Boxsäcke, auf die jeder draufhauen darf, und die das von berufswegen akzeptieren müssen.

Wie viele Beiträge blocken Sie so im Schnitt?
Das sind auf Twitter in den letzten zwei Jahren bestimmt 500 Nutzer gewesen, manche mit richtig heftigen Nazi-Profilen; Leute, die einfach immer nur rumätzen, einen selbst oder Dritte lächerlich machen. Das gebe ich mir nicht und das muss sich auch sonst niemand bieten lassen!

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