Politik

Krebsforschung: "Noch in diesem Jahrzehnt könnte der Durchbruch gelingen"

Bundesforschungsministerin Stark-Watzinger ist guter Dinge, was die Entwicklung neuer Behandlungsmethoden betrifft. Hoffnung macht ihr die mRNA-Technologie aus dem Hause Biontech: "Wir sind schon ein gutes Stück weit gekommen"


Bundesforschungsministerin Stark-Watzinger

Bundesforschungsministerin Stark-Watzinger

Von Christian Grimm, Bernhard Junginger

AZ-Interview mit Bettina Stark-Watzinger: Die FDP-Politikerin (54) aus Frankfurt am Main ist seit Dezember 2021 Bundesministerin für Bildung und Forschung.

AZ: Frau Stark-Watzinger, Deutschland befindet sich am Ausgang der Corona-Pandemie. Die schnelle Verfügbarkeit neuartiger Impfstoffe hat entscheidend dazu beigetragen, viel Leid zu verhindern. Doch der Corona-Impfstoff auf Basis der mRNA-Technologie soll erst der Anfang sein. Wo kann die Technologie in der Medizin uns in Zukunft noch helfen?
Bettina Stark-Watzinger: Zunächst einmal sieht man daran, dass die von uns geförderte Grundlagenforschung die beste Vorbereitung für Krisen ist. Ursprünglich stammt der Ansatz der mRNA-Technologie aus der Krebsforschung. Biontech-Gründer Ugur Sahin hat sie dann für den Corona-Impfstoff genutzt und so einen schnellen Durchbruch ermöglicht. Als Forschungsministerium haben wir Biontech und die Entwicklung dieser Technologie schon von 2007 an mit insgesamt knapp 400 Millionen Euro gefördert. Grundsätzlich kann sie gegen viele Krankheiten eingesetzt werden.

Krebszellen im menschlichen Körper.

Krebszellen im menschlichen Körper.

Woran wird hierzulande konkret gearbeitet?
Der Fokus liegt derzeit auf der Krebsforschung. Wir fördern zum Beispiel ein Helmholtz-Institut in Mainz, das an einer Immuntherapie gegen Krebs forscht. Ugur Sahin leitet dort eine Forschergruppe. Das Ziel ist die individualisierte Krebstherapie, die auf den einzelnen Patienten zugeschnitten ist. Im Augenblick behandeln Ärzte oft noch mit der Chemotherapie, also mit der chemischen Keule. Dabei werden auch viele gesunde Zellen getroffen, es kommt zu schweren Nebenwirkungen wie Haarausfall und Übelkeit. Die Patienten leiden enorm darunter. Die mRNA-Methode ist zielgenauer und mit weniger Nebenwirkungen verbunden.

Wann steht diese Therapie für alle an Krebskranken bereit?
Wissenschaftliche Durchbrüche lassen sich schlecht vorhersagen, das hat der Corona-Impfstoff im Positiven gezeigt. Aber wenn Sie mit Experten sprechen, dann könnte noch in diesem Jahrzehnt der große Durchbruch gelingen, also bis zum Jahr 2030. Wir sind schon ein gutes Stück weit gekommen.

"Ich glaube, dass die Bedenken kleiner werden"

Nun hat Biontech entschieden, die Krebsforschung nach England zu verlegen. Sind Sie enttäuscht und was wollen Sie machen, damit andere Spitzenforschung in Deutschland bleibt?
Biontech wandert nicht komplett ab, aber das sollte uns in Deutschland und Europa zu denken geben. Trotz der Zeitenwende müssen wir konsequent an unserer Wettbewerbsfähigkeit arbeiten, Bürokratie abbauen und technologieoffen bleiben. Wir brauchen mehr denn je eine Willkommenskultur für Innovationen. Mit der Zukunftsstrategie Forschung und Innovation schaffen wir ein ressortübergreifendes Fundament, um die Anstrengungen und Ressourcen der Bundesregierung zu bündeln und auf die großen Herausforderungen auszurichten. Eine ihrer Missionen lautet, die Gesundheit für alle zu verbessern.

Andererseits hat der Corona-Impfstoff auf Basis der mRNA-Technologie nicht die Hoffnungen erfüllt. Am Anfang hieß es, mit zwei Spritzen sei man umfassend geschützt. Das hat sich nicht bestätigt. Was heißt das für die Wirksamkeit der Medikamente auf Basis der neuen Methode?
Zunächst möchte ich eine Lanze für den Impfstoff brechen. Wenn wir jetzt nach China schauen, wird deutlich, wie gut er geholfen hat. Ganz konkret: Mein 94-jähriger Vater hat Corona bekommen. Der Verlauf war mild. Wenn er nicht geimpft gewesen wäre, hätte der Verlauf ganz anders sein können. Das Prinzip der wiederholten Impfung kennen wir auch von anderen Impfungen, etwa der Grippeimpfung.

Bei einem Teil der Bevölkerung gab und gibt es große Vorbehalte gegen die neuen Impfstoffe. Die Skeptiker fürchten, dass eine Spritze ihr Erbgut verändern würde. Sind das Bedenken, die man einfach hinnehmen muss?
Das war und ist ein Prozess der Aufklärung. Alles, was neu ist und in unseren Körper soll, kann Ängste auslösen. Und das muss man auch ernst nehmen. Es wird eine Aufgabe bleiben, diese Bedenken und Ängste abzubauen. Ich glaube aber auch, dass sie kleiner werden, wenn der mRNA-Therapieansatz auch bei anderen Erkrankungen erfolgreich ist.

Vor wenigen Tagen standen vor dem Reichstag 400 leere Feldbetten, um symbolisch auf die Hunderttausenden aufmerksam zu machen, die in Deutschland an Long Covid leiden. Gibt es Projekte, die den vielen Patienten Hoffnung machen können?
Zweifelsohne brauchen sie unsere Unterstützung. Deshalb unterstützen wir die Forschung zu Long Covid auf verschiedenen Ebenen, etwa durch gezielte Forschungsförderung und das Netzwerk Universitätsmedizin mit seinen 36 Uni-Kliniken. Derzeit fördern wir unter anderem zehn Forschungsvorhaben zu Long Covid mit rund 6,5 Millionen Euro, die ersten schon seit Ende 2021. Weitere zehn Millionen Euro stehen für eine Nationale Klinische Studiengruppe zur Verfügung, um Therapiestudien mit bekannten Medikamenten für Long-Covid-Patienten durchzuführen. Das Netzwerk Universitätsmedizin sorgt zudem dafür, dass Patienten mit Long Covid bestmöglich versorgt werden können.

Während die Perspektiven für neue Medikamente offenbar gut sind, gibt es im Hier und Jetzt schwere Probleme bei der Versorgung mit einfachen Arzneimitteln, wie zum Beispiel Fiebersaft für Kinder. Wann setzt sich die Bundesregierung mit der Pharmaindustrie an einen Tisch und organisiert eine sichere Versorgung?
Das fällt in die Zuständigkeit meines Kollegen Karl Lauterbach. Aber eine Lehre der Pandemie ist, dass wir voraus und auch europäisch denken müssen.

Allein mit Appellen an das Ehrgefühl der Hersteller wird es nichts werden…
Das stimmt. Wir müssen dafür sorgen, dass es sich für die Unternehmen lohnt.

Sind wir eigentlich auf eine nächste Pandemie gut vorbereitet?
Ja, auf mehreren Ebenen: Das Netzwerk Universitätsmedizin ermöglicht einen schnellen Austausch. Zudem werden wir die Zoonosenforschung weiter stärken und auch die Rolle der Umwelt bei der Übertragung von Krankheitserregern in den Blick nehmen. Und wir unterstützen die 100-Tage-Mission der internationalen Initiative "Coalition for Epidemic Preparedness Innovations", also Impfungen gegen neue Erreger in 100 Tagen zu entwickeln. Für andere Bereiche vergebe ich keine Noten.

"Geschlossene Schulen: Das war falsch"

Jetzt haben Sie, ohne es zu wissen, mit den Noten auch die Schulen angesprochen. Die Schüler haben einen hohen Preis in den zurückliegenden drei Jahren gezahlt. Die Leistungen der Grundschüler sind deutlich zurückgegangen, viele haben erhebliche Probleme beim Lesen und Rechnen. Was ist da verloren gegangen?
Ich würde es drastischer ausdrücken. Die Befunde, die wir haben, sind alarmierend. Es ist ja nicht eine Studie, sondern fast jede Studie zeigt die Schwächen. Und es trifft gerade Schülerinnen und Schüler aus sozial benachteiligten Familien. Laut Schulbarometer haben 65 Prozent erhebliche Lernrückstände. Wir sehen aber nicht nur das, sondern wir sehen Vereinsamung, psychische Probleme und auch eine Gewichtszunahme bei vielen Schülern. Um es ganz klar zu sagen: Diese 183 Tage, an denen Schulen ganz oder teilweise geschlossen waren, waren falsch. Das darf sich nicht wiederholen.

Die Erkenntnis kommt leider für eine ganze Schülergeneration zu spät. Wie können die Schüler besser gemacht werden?
Der Bund hat die Länder bereits durch das Corona-Aufholprogramm mit zwei Milliarden Euro unter anderem für Nachhol- und Nachhilfeprogramme unterstützt. In der damaligen Situation war das richtig, aber die Wirkung etwa von freiwilligen Sommerkursen ist überschaubar. Als Lehre aus der Pandemie müssen wir unser Bildungswesen grundsätzlich besser aufstellen und krisenfester machen. Deswegen freue ich mich sehr, dass Christian Lindner eine Bildungsmilliarde pro Jahr zur Verfügung stellen will, die ich in das Startchancen-Programm investieren möchte.

Was verbirgt sich dahinter?
Ab dem Schuljahr 2024/25 würde der Bund über zehn Jahre eine Milliarde Euro jährlich für das Programm geben. Damit wollen wir bis zu 4000 Brennpunktschulen zu Startchancen-Schulen machen. So sollen zum Beispiel ein Chancenbudget für jede dieser Schulen und mehr Sozialarbeit finanziert werden. Dabei soll das Geld nach dem tatsächlichen Bedarf unter den Ländern verteilt werden und nicht wie üblich nach dem Königsteiner Schlüssel. Die Länder müssen sich allerdings in gleicher Weise finanziell beteiligen. Sozial benachteiligte Schüler brauchen jetzt mehr Unterstützung, sonst laufen wir Gefahr, sie zu verlieren.