Leitartikel

Politik

Im digitalen Wahn


Immer wieder geht ein Rauschen durch unsere Medien, wenn ein neuer Wahnsinn die Welt ergreift. Vogelgrippe, Schweinepest, Datenklau oder eben jetzt die Spähaffäre rund um den amerikanischen Geheimdienst. Dann sitzt spät am Abend
wieder Heiner Geißler in den öffentlich-rechtlichen Talkshows und erklärt uns die Welt. Die Schlagzeilen tönen von internationalen Verstimmungen, die Datenschützer haben wie immer längst gewarnt - und Angela Merkel muss niesen, bei so viel Angreifbarkeit ihrer persönlichen Lebenssphäre, von der man sich bisher fragte, ob es sie überhaupt gibt. Und selbst der Kollege Helmut Markwort, der immer Sonntag morgens mit seinen Freunden vorm Weißbier sitzend im Bayerischen Fernsehen
Gemütlichkeit in die Wohnstuben der Republik versendet, ist empört bei so viel Dreistigkeit der amerikanischen Geheimdienste.

Was am Ende aber für den Betrachter bleiben wird, wird allenfalls die Erinnerung an die Zeit sein, in der dieses Thema medial bestimmend war. Als Heiner Geißler in den Talkshows saß, Markus Lanz sein fleißiges und etwas serviles Lächeln im Gesicht
trug, Maybrit Illner eben dieses Thema mit den gewohnten Gästen hocherfreut in ihrer Sendung durchhechelte und Günther Jauch sich mit genau diesem Thema am Sonntagabend in der ARD inszenierte. Sonst nichts.

Denn für das eigene Leben, für die persönliche Lebenswelt jedes Einzelnen von uns ist es am Ende doch vollkommen gleichgültig, ob Angela Merkels Handy abgehört wurde oder ob der amerikanische Präsident das wusste oder nicht. Natürlich hat es
eine gewisse außenpolitische Bedeutung und es stellt sich am Ende auch die Frage nach den Möglichkeiten des Rechtsstaats, aber was hat dieses Thema mit unserem täglichen Leben zu tun? Berührt uns das tatsächlich so sehr? Und es gibt ja auch
kaum jemanden, der wirklich an der Vogelgrippe erkrankt oder an der Schweinepest gestorben wäre.

Der in seiner kindlichen Aufrichtigkeit selbstmörderische Schriftsteller Martin Walser hat vor Jahren in einem Essay ein wenig ironisch geschrieben, dass er verwirrt sei bei so viel ernsthaften Überzeugungen, die seine Mitstreiter in den Talkshows an den
Tag legten. Er wenigstens brauche Geld, allein deshalb gehe er in die Talkshows und produziere sich dort. Diese Art der Aufrichtigkeit hat ihm allerdings wenig Beifall eingebracht und noch weniger Freunde. Denn die Selbstinszenierung der eigenen
Wichtigkeit mit den Problemen der Welt duldet den kritischen Blick von außen nur ungern. Der Medienkreisel mit immer neuen Themen und immer neuen Skandalen muss weiterlaufen.

Als Problem aber bleibt, dass Menschen auf Gespräche, auf Zuhören, auf Themen angewiesen sind. Und so hat der Schriftsteller Peter Handke als Ziel seines Schreibens formuliert, dass seine Bücher wie Häuser sein sollen, in denen man wohnen könne. Kann man aber in den aufgeregten Diskussionsrunden der Talkshows noch wohnen?

Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ) hat letzte Woche in einem schönen Leitartikel darauf aufmerksam gemacht, dass in der digitalen Welt die Entfremdung des Menschen von sich selbst immer stärker zunehme. Und letztlich ist ja auch der
Spähskandal nur eine Folge der ungeheuren Möglichkeiten des digitalen Wahns. Denn die digitale Welt verbirgt, wer mit wem spricht oder wer was über wen weiß. Und so schreibt die FAZ: "Zur Unkultur des Netzes, die kaum wieder rückgängig zu
machen ist, zählt auch dessen Mangel an Anstand. Anonymität kann wichtig sein, etwa wenn jemand schwerwiegende Folgen bei der Nennung seines Namens zu befürchten hat. Doch mit gutem Grund gilt für Demonstrationen ein Vermummungsverbot. Anders im Internet. Hier gehört der Deckname zur Netzidentität."

Die digitale Welt ist also für alle Agenten, die ihr Gesicht nicht mehr zeigen wollen, die große Chance und der amerikanische Abhörskandal ist nur eine Spielform des digitalen Wahns, der so viele ergriffen hat. Im Internet wird der Mensch selbst oft
genug zum Agenten seiner selbst, der sich nicht mehr wirklich zeigt und auch nichts mehr wirklich sagt.

Nicht nur in den Talkshows, sondern gerade auch im Netz ist es eine dünne Suppe, die gekocht wird und die niemanden mehr satt macht. Eine perfekte Technik, aber keine Inhalte mehr, eine weltweite Vernetzung, aber kein Gespräch, wo das Zuhören
lohnte. Und die Menschen vor ihren Geräten fragen sich, wo denn nun das Leben sei, das sie immer gieriger zu fassen trachten.

Sigmund Freud hat es schon vor 100 Jahren auf den Punkt gebracht. Der Mensch entwickle sich zum "Prothesengott", der einerseits immer allmächtiger und allgegenwärtiger werde, der aber andererseits die eigentlichen Möglichkeiten des Menschseins immer mehr verliere: seine Beziehungsfähigkeit, seine Liebesfähigkeit, seine wahre Sprechfähigkeit.

Wo aber so die medialen Formen des Sprechens immer weiter von den täglichen Sorgen und Nöten der Menschen sich entfernen, entsteht eine schreckliche Differenz zwischen dem Leben und Schicksal des Einzelnen und der öffentlichen und
allgemeinen Welt, in der er zu leben hat. Verhandelt wird in dieser medialen Welt, so scheint es ihm, nicht mehr sein Lebensschicksal, sondern abstrakte Fragen, die ihn von sich selbst wegführen. Er schaltet den Fernseher oder auch den Computer an,
aber diese Welt hat scheinbar nichts mehr mit ihm zu tun.

Eine Gegenwelt wäre: der Dinge, die ihn umgeben, innewerden dürfen. Sich selbst spüren dürfen. Der Welt gewahr werden. Wärme spüren. Zuhören können. Das aber leisten die digitale Welt und die Talkshow-Unkultur gerade nicht. Sie machen einsam und bleiben in ihrem Inhalt allzu leer.

Wo aber ist dann das wahre Sprechen? Sicher eher im geschriebenen oder im gedruckten Wort als im digitalen Wahn. Sicher stärker in den einfachen Gleichnissen der Bibel als in den flachen und falschen Bildern der Computerwelt. Vor allem aber
auch im wahren Gespräch und in der echten, analogen Begegnung.

Die digitale Welt mit all ihren Auswüchsen kann nicht mehr zurückgenommen werden. Fortschrittsfeindlichkeit ist Unsinn. Die digitale Welt hat auch viele Vergünstigungen und Verbesserungen gebracht. Aber sie muss viel besser in ihrem Wesen analysiert und verstanden werden. So gebraucht und eingesetzt werden, dass sie dem Menschen in seinem analogen Leben hilft, anstatt ihn zu einem digitalen Wesen zu degradieren.

Dem guten Sprechen liegt als wesentliches Merkmal der Begriff "Mitteilen" zugrunde. Im Mitteilen aber liegt die wesentliche Komponente des Sprechens begründet: Zwei Sprecher haben sich darauf verständigt, etwas miteinander zu teilen, von dessen Wert sie gemeinsam überzeugt sind. Und auch das Christentum verbürgt im Begriff seines Sprechens den Wert des Mitgeteilten: Eu-Aggelion, die gute Nachricht ist es, was mitgeteilt wird. Die digitale Welt ist dagegen nur Billigware!