Angehörige überfordert

Wenn Pflege daheim zum Horror wird


Eine Angehörige hilft einer älteren Frau beim Anziehen. In der Pflegeist oft viel Geduld mit den Betroffenen gefragt.

Eine Angehörige hilft einer älteren Frau beim Anziehen. In der Pflegeist oft viel Geduld mit den Betroffenen gefragt.

Von Simone Mauer

Viele Angehörige sind überfordert. Dann können Aggression und Gewalt zum Ventil werden. Experten fordern mehr Beratung und Begleitung. Übergriffe, Zahlen, Hilfen.

Eine Tagespflegerin bemerkt handtellergroße Hämatome an Hüfte und Gesäß einer demenzkranken Frau. Die Polizei berichtet, dass eine pflegebedürftige Frau von ihrem Ehemann aus dem Auto gezogen und mit der Faust ins Gesicht geschlagen wurde. Ein Mann ruft die Polizei, weil er eingesperrt wurde.

Gewaltsituationen in der Pflege

Bei all diesen Vorfällen geht es um Gewaltsituationen in der Pflege. Und zwar zu Hause. Die Fallbeispiele stammen aus dem Landkreis Tuttlingen nordwestlich des Bodensees, wo sich derzeit das bundesweit einmalige Projekt "Erwachsenenschutz" dem Umgang mit "problematischen Pflegearrangements" widmet. So bezeichnet es Projektleiter Wolfgang Hauser recht vorsichtig. Nachbarn, Polizei, ambulante Pflegedienste, auch Bürgermeister und sogar Pflegebedürftige selbst hätten immer öfter berichtet: "Da läuft was nicht gut. Da werden Menschen nicht gut versorgt. Da vermüllt jemand", so Hauser.

Pflege-Strukturen zu Hause sind mangelhaft

Fakt ist: Nahezu jeder ältere Mensch will möglichst lange zu Hause bleiben. Aber: Die Strukturen dafür sind mangelhaft, fehlen oft ganz. Besonders Menschen mit Demenz sind laut dem Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) gefährdet, Opfer von Gewalt in der Pflege zu werden. Anschreien, demütigen, bevormunden, zu lange auf dem WC sitzen lassen, nicht ernst nehmen - die Gewalt gegen Pflegebedürftige, ob in einer Einrichtung oder zu Hause, ist vielfältig, schwer zu fassen und fängt lange vor strafrechtlich relevanten Übergriffen an. Das ZQP hat erst in diesem Jahr Zahlen erhoben, wie verbreitet Gewalt in der Pflege daheim ist (siehe unten).

Drei Viertel der pflegebedürftigen Menschen werden zu Hause versorgt

Fast drei Viertel der rund drei Millionen pflegebedürftigen Menschen in Deutschland werden laut ZQP zu Hause versorgt - davon 1,4 Millionen ausschließlich durch Angehörige. Die Bereitschaft zur Familienpflege ist aus Sicht von Experten hierzulande einzigartig. "Sogar in Italien wird weniger gepflegt, von Frankreich ganz zu schweigen", sagt Thomas Klie, der an der Evangelischen Hochschule in Freiburg lehrt und das Tuttlinger Projekt begleitet. "Da wird sehr viel geleistet - allerdings auf Kosten der Pflegeangehörigen."

Auch Klie spricht von einer nennenswerten Zahl von Haushalten, in denen man es mit Gewalthandlungen zu tun habe. Alleine aus Begutachtungen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung habe sich ergeben, dass etwa 15 bis 20 Prozent der zu Hause versorgten Menschen mit Demenz fixiert, sediert und/oder eingesperrt werden.

Überlastung als Grund von Übergriffen

Laut Wolfgang Hauser ist der Grund für solche Übergriffe häufig, dass die Angehörigen überlastet sind. Sie würden im Stich gelassen und weder beraten noch begleitet. "Man erkauft sich die Familienpflege durch Weggucken, indem man sich mit der Lebenssituation der Menschen mit Pflegebedarf nicht in ausreichender Weise auseinandersetzt", sagt Klie. Das Projekt in Tuttlingen könne in die Breite wirken, hofft er - um eine vernachlässigte Wirklichkeit in den Blick zu nehmen.

Formen von Gewalt: Von Schlägen bis Hilfe entziehen

Gewalt in der Pflege muss nicht immer offensichtlich sein. Die Stiftung ZQP zeigt auf, was darunter fällt:

  • SCHMERZEN ZUFÜGEN: zu fest anfassen, schlagen, unbequem hinlegen, mit zu heißem Wasser waschen.
  • BEVORMUNDEN: zum Essen zwingen, füttern - damit es schneller geht, über Tagesablauf und Kontakte entscheiden, das Tragen von Inkontinenzhosen oder Katheter erzwingen.
  • DIE FREIHEIT EINSCHRÄNKEN: anschnallen, festbinden, einschließen, Bettgitter, Medikamente zum Ruhigstellen verabreichen.
  • RESPEKTLOS VERHALTEN: Blickkontakt vermeiden, wie ein Kind behandeln, abfällige Bemerkungen.
  • HILFE VORENTHALTEN: Schmerzen und Gefühle nicht ernst nehmen, auf Hilfe warten lassen, Bewegung verweigern, schmutzige Kleidung nicht wechseln, nicht bei der Körperpflege helfen.
  • ZU STARK KONTROLLIEREN: Hilfsmittel wegnehmen, über Geld bestimmen, Informationen vorenthalten, ungefragt Briefe öffnen.

Studie zur Pflege daheim: Vielen fehlt die Anerkennung

Die Stiftung Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) hat in diesem Jahr eine Studie zu Gewalt in der häuslichen Pflege veröffentlicht. Demnach fühlen sich viele pflegende Angehörige niedergeschlagen (36 Prozent) oder sind verärgert (29 Prozent). 25 Prozent hätten den Pflegebedürftigen schon einmal "vor Wut schütteln können".

Etwa die Hälfte der Befragten findet zudem, dass die Pflegebedürftigen ihr Engagement zu wenig wertschätzen (52 Prozent). Insgesamt 40 Prozent gaben an, innerhalb der letzten sechs Monate mindestens einmal gewaltsam gehandelt zu haben.

Psychische Gewalt am häufigsten

Am häufigsten wurde von Formen psychischer Gewalt berichtet (32 Prozent). Zwölf Prozent sprachen von körperlicher Gewalt, elf Prozent von Vernachlässigung. Bei sechs Prozent ging es um freiheitsentziehende Maßnahmen (FEM).

Eugen Brysch, Vorstand der Stiftung Patientenschutz, geht davon aus, dass noch viel mehr Vorfälle nicht öffentlich werden: "Vieles bleibt im Dunkeln. Keine Statistik kann das erfassen." Das ZQP sagt auch, dass die Aggression Betroffener gegen die, von denen sie gepflegt werden, oft vernachlässigt werde.

Vorbeugung und Anlaufstellen

Aggressives Verhalten kann eine Folge von Überlastung sein. Pflegende Angehörige können diese verhindern, indem sie ...

  • ... ihre eigenen Grenzen achten: Sprechen Sie aktiv darüber, was Sie leisten können und was nicht machbar ist. Warnsignale für Überlastung können laut Zentrum für Qualität in der Pflege Unruhe, Gereiztheit, Energiemangel, Angst- und Schuldgefühle, Schlafstörungen oder auch Herzrasen sein.... Hilfe annehmen: Lassen Sie sich beraten, welche Möglichkeiten zur Entlastung es gibt und nutzen Sie auch Schulungen zur Pflege (Pflegekurse werden von der Pflegekasse finanziert). Vom Bayerischen Sozialministerium gibt es auch ein Handbuch "Kurs für pflegende Angehörige" (Ernst Reinhard Verlag).
  • ... bewusst Entspannung suchen: etwa mit Yoga oder Muskelentspannung etc.
  • ... sich mit anderen Pflegenden austauschen (etwa in Selbsthilfegruppen).

ANLAUFSTELLEN:

  • Das ZQP bietet die Seite www.pflege-gewalt.de an.
  • Das Bayerische Gesundheitsministerium empfiehlt über das ZQP (https://bit.ly/2TUpBeM) Anlaufstellen für pflegende Angehörige; etwa die Fachstelle für pflegende Angehörige Landkreis München oder DAHOAM Häusliche Krankenpflege und Altenbetreuung e.V.

Lesen Sie auch: "Verborgene Gewalt - Übergriffe in der häuslichen Pflege"