AZ-Interview

SOS-Kinderdorf-Helferin Katharina Ebel: "Afrika droht eine Katastrophe"


Eine Mutter mit ihrem Kind in Somalia bei einer Untersuchung.

Eine Mutter mit ihrem Kind in Somalia bei einer Untersuchung.

Von Michael Schreiber

SOS-Kinderdorf hilft weltweit Kindern in Not, ein sicheres Leben zu führen. Dazu bedarf es mutiger Frauen wie Katharina Ebel.

AZ: Frau Ebel, Sie waren dreieinhalb Monate in Afrika. Wo waren Sie überall und welche Situation haben Sie vorgefunden?
KATHARINA EBEL: Meine Basisstation war wie immer in Äthiopien im Regional Office von SOS. Während der dreieinhalb Monate war ich unter anderem für grüne Projekte und Sicherheitsmanagement zuständig, das heißt, ich war während dieser Zeit in zehn Ländern unterwegs: Ich war im Sudan, in Nigeria, in Ruanda, in Uganda, in Sambia, in Somalia. Insofern habe ich mittlerweile einen ganz guten Überblick.

Sie arbeitet als Projektmanagerin und Nothilfekoordinatorin für SOS-Kinderdorf. Nachdem die 40-Jährige die vergangenen Jahre die Nothilfe für Kinder und Familien in Syrien und im Irak koordiniert hat, ist sie seit einiger Zeit in Afrika unterwegs.

Sie arbeitet als Projektmanagerin und Nothilfekoordinatorin für SOS-Kinderdorf. Nachdem die 40-Jährige die vergangenen Jahre die Nothilfe für Kinder und Familien in Syrien und im Irak koordiniert hat, ist sie seit einiger Zeit in Afrika unterwegs.

Die Menschen in Kapstadt in Südafrika leben momentan im Zustand eines strikten Lockdowns, also einer Massenquarantäne. Das Verlassen des Hauses ist nur für Einkäufe oder Arztbesuche erlaubt. Macht sich die Corona-Krise also auch in Afrika bemerkbar?
Ja. Die Afrikaner haben eigentlich viel schneller reagiert als wir. Mit den ersten Fällen haben sie auf Lockdown umgeschaltet und in vielen Ländern die Schulen und Geschäfte geschlossen. Zunächst wurde der Lockdown nur nachts durchgeführt. Das war so in Nigeria, in Kenia, in Südafrika und in Sambia. Diese nächtliche Ausgangssperre hat leider zur Folge, dass keine Waren mehr in die Städte kommen. Denn der Warentransfer geschieht nachts, und die Städte werden dann nicht mehr ausreichend versorgt. Es gibt also weniger Lebensmittel in den Städten und die Preise steigen. Zudem schnellt die Arbeitslosigkeit nach oben, vor allem in den Armutsvierteln, Slums und Flüchtlingslagern. Dort leben die Menschen von der Hand in den Mund. Vom Tagesgeschäft. Sie stellen sich tagsüber an die Straße, verkaufen etwas oder warten darauf, dass man ihnen einen Job anbietet. Es gibt dort keine Versicherungen oder einen Staat, der einspringt. Was sollen sie jetzt machen? Sie hocken mit ihrer zehnköpfigen Familie in ihrer Hütte, die genau einen Raum hat, und haben nicht mehr die Gelegenheit, zwei Dollar am Tag zu verdienen und das Notwendigste auf den Tisch zu bringen.

"Unsere Präventivmaßnahmen zur Hygiene dringen dort nicht durch"

Viele Länder Afrikas sind durch Covid-19 in ein Dilemma geraten: Auf der einen Seite besteht die Furcht vor einer zunehmenden Verarmung, auf der anderen Seite die Angst, dass sich das Virus in den Slums epidemisch ausbreitet, da dort die notwendigen hygienischen Standards nicht ansatzweise gegeben sind.
Unsere Präventivmaßnahmen zur Hygiene dringen dort nicht durch. Denn die Menschen müssen sich erstens zwischen Brot oder Seife entscheiden. Wie kann ich aber von Menschen hygienische Maßnahmen und Geduld verlangen, wenn sie hungern? Das ist absurd. Und zweitens: Wenn ich in einer kleinen Hütte mit meiner zehnköpfigen Familie schlafe, wie kann ich mich dann als Einzelner isolieren? Viele Afrikaner sagen zudem zu Recht: Wir haben diese Krise nicht verursacht. Warum sind aber gerade wir jetzt die Leidtragenden? Und was auf sie jetzt zurollt, ist etwas ganz anderes als bei uns. Die meisten afrikanischen Länder haben marode Gesundheits- und Wirtschaftssysteme. Auch bei uns werden zwar Existenzen zerstört werden, aber wir haben zumindest ein soziales Netz, und es gibt einen Staat, der einspringen kann.

"Afrika droht medizinische und wirtschaftliche Katastrophe"

Besteht nicht die Gefahr, dass viele Menschen in Afrika nicht nur an Covid-19, sondern auch an Hunger sterben werden?
Es droht Afrika zum einen eine medizinische und zum anderen eine wirtschaftliche Katastrophe. Und beide werden zu Todeszahlen führen, die wir uns jetzt noch gar nicht vorstellen können.

Wird diese Krise nicht auch wieder neue Flüchtlingsströme auslösen?
Sicher. Erst innerhalb der Länder und danach außerhalb.

Afrikanische Staaten wie die Demokratische Republik Kongo oder Südafrika haben schon Erfahrungen mit Viren wie Ebola oder HIV gemacht. Hat das Auswirkungen?
Wir reden bei uns von der Risikogruppe der 70- und 80-Jährigen. In den meisten afrikanischen Ländern wird das aufgrund der Vorerkrankungen anders aussehen. Die Menschen dort kämpfen mit Malaria, HIV und Durchfallerkrankungen. Zahlreiche Kinder und Erwachsene sind mangel- und unterernährt. Sie haben kein intaktes Immunsystem. Sie können Krisen mental allerdings positiver angehen und bewältigen als wir. Positiv ist zudem, dass Afrika eine relativ junge Gesellschaft hat.

Diese spielenden Kinder in Monrovia in Liberia lassen sich trotz ihrer materiellen Not ihre Lebensfreude nicht nehmen.

Diese spielenden Kinder in Monrovia in Liberia lassen sich trotz ihrer materiellen Not ihre Lebensfreude nicht nehmen.

Welche Konsequenzen haben die Corona-Krise und der Lockdown noch für Afrika?
Wir sollten auch an die Aufstände denken, wie sie in Nigeria, Kenia und Südafrika ausgebrochen sind. Dort haben Polizei und Militär den Ausnahmezustand ausgerufen, um den Lockdown durchzusetzen. In Nigeria haben zum Beispiel Polizei und Militär mehr Menschen getötet als das Virus. Elf sind dem Virus zum Opfer gefallen und 18 der Polizeigewalt. Um die Ausgangssperre durchzusetzen, erschießen sie die Leute einfach.

Und warum rebellieren die Menschen?
Weil sie Hunger haben. Oder sie wollen einfach arbeiten und nicht daheim bleiben. Und das ist erst der Anfang. Denken Sie zum Beispiel an eines unserer Kinderdörfer in Kenia, das direkt neben einem Slum liegt. In all unseren kenianischen Kinderdörfern wurde so vorgesorgt, dass wir dort drei Monate ausharren können. Wir haben Nahrungsmittel und Wasser besorgt...

"Was machen wir, wenn die Menschen außerhalbt der Kinderdörfer nichts mehr haben?"

Das wird aber nicht so bleiben, wenn die Nachbarn übergriffig werden.
Genau. Denn die Frage lautet doch: Was machen wir, wenn die Menschen außerhalb der Kinderdörfer nichts mehr haben? Wie halten wir sie denn ab? Die kann man nicht abhalten. Im Notfall müsste man die Kinderdörfer dann evakuieren.

Vor fünf Jahren während der Flüchtlingskrise war die Aufmerksamkeit für Afrika groß. Damals wurden große Hilfen und Projekte angekündigt. Doch wirklich umgesetzt wurde nur wenige. Sobald man die Flüchtlingsströme einigermaßen reguliert hatte, war der Elan verebbt.
Was für ein Fehler! Vor allem China hat sich aus wirtschaftlichem Interesse in den letzten Jahren in Afrika stark engagiert. Durchaus mit Erfolg: Entwicklungshilfe muss man heute in Afrika extrem mit Wirtschaft verknüpfen. Man muss die Leute in Lohn und Brot bringen. Man muss die Wirtschaft in Gang bringen und auch die heimischen Produkte kaufen. Wenn die Wirtschaft in einem Staat nicht in Gang kommt, bekomme ich es mit einem Volk zu tun, das rebelliert.

"Wirtschaftliche Fortschritte der letzten Jahrzehnte, sind sehr fragil"

Es heißt also gerade jetzt, Afrika finanziell zu unterstützen.
Ja. Die wirtschaftlichen Fortschritte, die man in Afrika die letzten Jahrzehnte erzielt hat, sind sehr fragil. Die afrikanischen Staaten haben keine Backups, sie halten es nicht durch, auch nur zwei Monate in einem Lockdown zu leben. Das wirft sie um 20 Jahre zurück.

Und wenn wir nicht helfen, was ist dann zu befürchten?
Europa und die USA werden den Kampf gegen das Virus gewinnen. Aber wenn wir Afrika nicht helfen, kommt das Virus auch zu uns wieder. Wie in einem Kreislauf. Unsere Welt ist wirtschaftlich global verbunden, und deshalb wird in ihr viel gereist. Diese Verbindung kann man auf Dauer nicht kappen. Das Wort Solidarität erfährt in diesem Zusammenhang eine große Aufwertung: Spenden für Afrika bereitzustellen ist insofern kein Akt der Nächstenliebe, sondern eine Notwendigkeit aus Selbstschutz.

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