Kultur

"Was sonst verschwiegen wird"

Lukas Bärfuss wird das "Forum" im Rahmen des Literaturfests München kuratieren. Bald stellt er seinen neuen Roman im Literaturhaus vor


Lukas Bärfuss im Treppenhaus des Münchner Literaturhauses.

Lukas Bärfuss im Treppenhaus des Münchner Literaturhauses.

Von Volker Isfort

Als einen der "markantesten Intellektuellen der Gegenwart" hat Literaturhaus-Leiterin Tanja Graf den Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss bezeichnet und ihn als Kurator für das kommende Literaturfest (15. bis zum 24. November) verpflichtet. Dort wird der Schweizer eine eigene Reihe zum Thema "Erben" in allen Facetten betreuen.

Am 23. Mai stellt er im Literaturhaus seinen gerade erschienenen Roman "Die Krume Brot" vor, in dem er seine Protagonistin Adelina, Tochter italienischer Einwanderer, in den ökonomischen Überlebenskampf und die politische Radikalisierung der 70er Jahre schickt.

AZ: Herr Bärfuss, Ihr Literaturfestthema "Was wir erben, was wir hinterlassen" hat viel mit Ihnen und Ihren jüngsten Büchern zu tun.

LUKAS BÄRFUSS: Jeder hat seine Erb- und Herkunftsgeschichte. Und nur wenige Menschen, die ich getroffen habe, sind zufrieden mit ihrem Erbe, dabei meine ich nicht ausschließlich das materielle Erbe. Wer viel erbt, hat ebenso eine Aufgabe wie derjenige, der leer ausgeht. Die Herkunft bestimmt uns und das erledigt sich auch nicht. In allen Lebensphasen bleibt sie zentral.

Sie gehören zu denjenigen, die nichts geerbt haben, wie Sie in Ihrem Buch "Vaters Kiste" beschrieben haben. Sie waren sogar zeitweilig als Jugendlicher obdachlos. Ohne Erbe aber lässt sich in Ihrem Wohnort Zürich, wie auch in München, als Schriftsteller kein Eigentum erwerben.

Niemals. Und das hat Auswirkungen auf das ganze Leben. Ich sehe es bei meinen Freunden. Der entscheidende Unterschied ist, ob jemand eine Liegenschaft erbt oder nicht. In Zürich konnte man vor zwei Generationen mit einem erfolgreichen, bürgerlichen Handwerk ein Grundstück kaufen. Aber das ist längst vorbei. Ohne ein neues Erbrecht kommt es zu einer noch stärkeren Segregation der Gesellschaft als wir sie ohnehin schon haben.

Die Forderung nach einem neuen Erbrecht kommt meist von Menschen, die ohnehin nichts erben.

Da bin ich mir nicht sicher. Es gibt auch reiche Erben, die der Ansicht sind, man müsse die Vermögen ganz anders besteuern. Nicht nur aus altruistischen Motiven. Eine Erbschaft kann eine Biografie stark belasten. Denken Sie an Marlene Engelhorn und ihre Initiative "taxmenow".

Es geht Ihnen aber auch um andere Aspekte des Erbens.

Unbedingt, unsere eigene Hinterlassenschaft gehört natürlich auch dazu. Wir als Gesellschaft werden vor allem Müll hinterlassen in einem noch nie dagewesenen Ausmaß. Wir haben noch keinen Weg gefunden, das rechtlich abzubilden, dabei betrifft das grundsätzlich auch die Demokratiefähigkeit unserer Gesellschaft. Wir leben auf Kosten unserer eigenen Kinder. Das ist keine Redensart mehr, das eine Tatsache. Ein Leben in der Gegenwart bedeutet ein Leben weniger in der Zukunft.

Man könnte behaupten, dass Ihre Biografie beweist, dass alles möglich ist: aus der Obdachlosigkeit zum Büchner-Preisträger. Aber ganz so durchlässig ist die Gesellschaft dann doch nicht.

Wenn ich meine Kinder motivieren musste, ihre Schularbeiten zu machen, dann hieß es immer, bei Dir ging es ja auch ohne. Dann musste ich ihnen sehr deutlich machen, dass ich kein Beispiel abgebe, sondern die große Ausnahme bin. Vielleicht verspüre ich auch deswegen eine gewisse Verantwortung, darauf hinzuweisen, dass es den allermeisten Menschen mit einer ähnlichen Herkunft nicht so ergeht. Natürlich machen die Sekundärtugenden einen Unterschied, ich war fleißig und habe mich reingekniet, der größere Teil aber war reines Glück.

Wann haben Sie sich denn sicher gefühlt, in der Gesellschaft angekommen zu sein?

Eigentlich bis heute nicht, und das ist auch ein Makel der Herkunft, das beruhigt sich nie. Ich werde nie das Gefühl loswerden, dass schon morgen alles weg sein kann.

Hat Sie das vielleicht auch produktiver gemacht?

Eher angstfreier, ich kannte den Absturz und weiß wie das sich anfühlt, nicht als Phantom, sondern als konkrete Erfahrung. Was mir Sicherheit im Leben gibt, ist der Kontakt mit anderen Menschen, die Beziehungen, nicht das Materielle.

Sie haben mit "Die Krume Brot" einen neuen Roman geschrieben, der Teil eines größeren Projektes werden soll.

Es wird mindestens eine Trilogie, weil ich eine breite und weitausgreifende Geschichte erzählen will, in verschiedenen Stimmen, das kann ich unmöglich in einem Roman unterbringen. "Die Krume Brot" ist ein sehr persönliches Buch, auch darüber, wie Armut schmeckt, wie sich Armut anfühlt - da konnte ich aus dem Vollen schöpfen. Armut ist fast ganz aus der deutschsprachigen Literatur verschwunden, obwohl sie früher ein großes Thema war. Aber spätestens mit dem Wirtschaftswunder hat man sich auf Aufstiegsbiografien eingeschworen.

Sie wollen Geschichte erzählen über Menschen, die sonst keine Geschichte schreiben?

Literatur sollte das zur Sprache bringen, was sonst verschwiegen wird.

Welche Themenfelder wollen sie beim Literaturfest noch behandeln?

Ich stelle mir das in drei Achsen vor, die rechtliche Thematik und den biologischen Teil und schliesslich die Frage, wie wir unsere Geschichte erzählen, gerade jetzt, wo sich viele Gewissheiten aufgelöst haben, etwa die Geschichte des Verhältnisses von Deutschland zu Russland. Oder die Geschichte des kolonialen Erbes. Wir haben nach dem 24. Februar 2022 oft den Satz gehört "Wir konnten uns das nicht vorstellen." Und Literatur ist etwas, das die Vorstellungskraft trainiert. Auch deswegen ist sie so wichtig.

Wird auch die Identitätspolitik eine Rolle spielen?

Natürlich, dieser Kulturkampf wird gewiss verhandelt. Auch hier geht es um Herkunft und Privilegien. Das zeigt sich schmerzhaft in der Auseinandersetzung zwischen Frauen, die sich als Feministin verstehen und den Transgendermenschen. In Basel zum Beispiel kommt ein Gleichstellungsgesetz zur Abstimmung. Die Frauen gehen auf die Barrikaden. Sie wollen ihre harterkämpften Rechte nicht teilen.

Lukas Bärfuss stellt "Die Krume Brot" (Rowohlt, 224 Seiten, 22 Euro) am 23. Mai um 20 Uhr im Literaturhaus am Salvatorplatz vor