Bayerisches Staatsschauspiel

"Vor Sonnenaufgang" nach Gerhart Hauptmann - die AZ-Kritik


Lieber im Dunkeln bleiben: Helene (Pia Händler) belauscht ihren Schwager Thomas (Michael Wächter, li.) beim Gespräch mit seinem alten Klassenkameraden Alfred Loth (Simon Zagermann).

Lieber im Dunkeln bleiben: Helene (Pia Händler) belauscht ihren Schwager Thomas (Michael Wächter, li.) beim Gespräch mit seinem alten Klassenkameraden Alfred Loth (Simon Zagermann).

Von Robert Braunmüller / TV/Medien

Eine weitere Übernahme aus Basel ans Residenztheater: "Vor Sonnenaufgang" von Ewald Palmetshofer, frei nach dem Stück von Gerhart Hauptmann.

Die Sensorik im bürgerlichen Mittelstand ist fein gebaut, daher äußerst empfindlich: Mögen manche unbequemen Wahrheiten unter der Oberfläche liegen und nur zwischen den Worten hin und wieder durchschimmern, so kommen sie doch irgendwann unweigerlich ans Licht.

Die Bewegungsmelder, die zum Bühnenbild von Marie Roth an diesem Abend gehören, sind anschaulich dafür, dass allein ein kleiner, falscher Schritt sofort für eine Veränderung sorgen kann: Da befand sich gerade noch jemand oder etwas unentdeckt im Dunkeln und, zack, plötzlich ist alles hell und schonungslos klar konturiert.

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"Vor Sonnenaufgang" im Residenztheater.

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"Vor Sonnenaufgang" im Residenztheater.

Allein im Titel von Gerhart Hauptmanns erstem Drama "Vor Sonnenaufgang", mit dem Hauptmann einst im Jahr 1889 dem Naturalismus auf den Theaterbühnen nachhaltig den Weg wies, steckt eine Ahnung von bevorstehenden Desastern, von Enthüllungen, die sich aus den dumpfen Nachtschatten des alltäglichen Daseins schon irgendwann herausschälen werden.

Im Speckgürtel

Der österreichische Dramatiker Ewald Palmetshofer, der jetzt sowohl Hausautor als auch Dramaturg am Residenztheater unter dem neuen Intendanten Andreas Beck ist, hat sich bereits 2017 daran gemacht, dieses Frühwerk ins Heute zu übersetzen. Wobei er das Stück aus dem bäuerlichen Milieu, wo Hauptmann teils noch schwer verständlich Schlesisch sprechen ließ, in den restländlichen Speckgürtel einer Stadt verpflanzte.

Hier spricht man ein ganz heutiges Deutsch, das jedoch dank der Palmetshoferschen Sprachkunst, gleichsam etwas Geformtes, Gewundenes an sich hat, so dass schon in den Sätzen eine sanft spürbare Distanz zur behaupteten Realität liegt. Unter der Regie von Nora Schlocker, die das Stück vor fast genau zwei Jahren in Basel zur Uraufführung brachte und diese Inszenierung nun als Resi-Hausregisseurin nach München mitsamt Spielteam transportiert hat, bewegen sie sich in einem mit Esstisch und Stühlen karg eingerichteten Guckkasten. Die Wände sind je nach Beleuchtung in ein fahles Gelb oder giftiges Grün getaucht, als ob dieses Umfeld ständig mitkommentieren will, dass hier wirklich gar nichts eitel Sonnenschein ist.

Von oben kommt manchmal eine Außenfassade mitsamt einem großen Fenster mit Blick ins Innere herabgefahren - vor dem Haus versuchen die Figuren, sich vor den anderen zurückzuziehen, machen ihre Raucherpausen, und ja, einmal wird eine Socke genutzt, um einen Bewegungsmelder zu verhüllen und damit außer Gefecht zu setzen. Ist doch viel schöner, im Dunkeln für sich zu bleiben.

Ein angeschlagener Patriarch

Aber die Ruhe wird eigentlich immer gestört; es gibt kein Alleinsein, dafür, natürlich, viel Einsamkeit. Das hat sich seit Hauptmann nicht verändert, so, wie Palmetshofer insgesamt die melancholische Ausrichtung des Sozialdramas, seine Figurenkonstellationen und Konflikte in ihren Grundfesten beibehielt, nicht ohne eine gute Dosis Humor beizumischen, was den Abend umso unterhaltsamer macht.

Statt mit einem Bauern-Clan hat man es jetzt mit einer mittelständischen Familie zu tun, die es ebenfalls zu einigem Wohlstand gebracht hat, wodurch die Gemütslagen sich etwas verschoben haben. Der Hausvater, Egon Krause, ist auch bei Palmetshofer einer, der dem Alkohol stark zugeneigt ist, der gesamten Sippe aber auch genüsslich von seinem morgendlichen Stuhlgang erzählt, um kurze Zeit später angesichts des Familienwirbels, der um ihn herum losbricht, ziemlich deppert dazustehen.

Steffen Höld spielt diesen angeschlagenen Patriarchen mit leichter Komik, gibt eine anrührende, unzulängliche Figur ab, aber dieser Krause lässt seine überfürsorgliche, gelb behoste und damit zur Umgebung deutlich dazu gehörende zweite Gattin (Cathrin Störmer) auch immer wieder leiden. Und es ist ja nachvollziehbar, dass der trinkfreudige Papa bei seiner heimgekehrten jüngsten Tochter aus erster Ehe, Helene (Pia Händler), Trost sucht, aber wie er sie dabei anfasst, ist völlig übergriffig.

Aus Alkohol wird die Depression

Krauses andere, ältere Tochter Martha ist schwanger und taucht, während sie im Original unsichtbar blieb, nun verstärkt auf: als eine unter Depressionen leidende Frau, der die Schwangerschaft und all die Zumutungen, die damit verbunden sind, die Laune noch mehr verhageln. Myriam Schröder und ihr ungekünsteltes, gut geerdetes Spiel konnte man schon bei der Saisonpremiere entdecken - in "Die Verlorenen", ebenfalls verfasst von Palmetshofer und inszeniert von Nora Schlocker. Da spielte Schröder eine Mutter, die sich eine Auszeit fern der Patchwork-Familie in einer Waldhütte nimmt und später verzweifelt um ihren degenerierten Sohn bemüht. In "Vor Sonnenaufgang" ist sie eine Mutter in spe, die sich sowohl von ihren Verwandten als auch ihrem eigenen Körper entfremdet fühlt - auch hier also eine Verlorene.

Während bei Hauptmann der Alkoholismus als vererbbare Sucht die gesamte Familie bedroht, ist bei Palmetshofer vor allem die Depression ein zeitgemäßes Übel, das jederzeit die Menschen befallen kann. Ein unverhoffter Besucher, der Journalist Alfred Loth (charismatisch: Simon Zagermann), bringt die Familie Krause immerhin vorübergehend in Bewegung, wirkt in aller Ruhe anziehend - und bedrohlich.

Am Ende ein Sonnenaufgang

Er ist ein alter Schulfreund von Marthas Gatten Thomas (Michael Wächter als lebensverbitterter Softie-Karrierist), der sich im Dienste des Erfolgs dem rechten Rand zugewendet hat. Zwischen den ehemaligen Klassenkameraden entspinnen sich passiv-aggressive Wortduelle, in denen es untergründig und am Ende ganz offen um den Ausverkauf der linken Ideale von einst geht.

"Ich schau die Sachen so lang an, bis dass ich finde, was nicht schön dran ist", meint Loth zu Helene, die sich im Gegensatz zu ihm um eine positive Weltsicht bemüht. Im Dunkeln küssen sie sich, aber lange bleibt diese Möglichkeit einer Liebesgeschichte nicht unentdeckt.

Tragisch muss das naturalistische Drama natürlich enden, gestern wie heute. Auf eine Katastrophe lässt Hauptmann eine weitere folgen - den zweiten Schlag erspart Palmetshofer aber den Zuschauern. Stattdessen geht die Sonne auf, ist ein Scheinwerfer, der nach diesem hervorragend gespielten, sensibel inszenierten Abend auch grell und all umfassend ins Publikum strahlt.

Residenztheater, am 6. und 11. Dezember; 3. und 16. Januar, Karten unter Telefon 2185 1940