Kultur

Staunen über die Existenz

Tony Cragg als Zeichner und Bildhauer in der Pinakothek der Moderne


Für seine Installation "Spectrum" sammelte Tony Cragg 1985 hunderte Teile von Plastikmüll.

Für seine Installation "Spectrum" sammelte Tony Cragg 1985 hunderte Teile von Plastikmüll.

Von Roberta De Righi

Er ist ein Archäologe des Anthropozän: Für seine Assemblage "Spectrum" sammelte Tony Gragg 1985 hunderte Teile von Plastikmüll "in schreienden Primärfarben": Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau. Jetzt wurde die sechs Quadratmeter große Boden-Installation aus einer italienischen Privatsammlung temporär nach München in die Pinakothek der Moderne gebracht.

Der britische Bildhauer (geboren 1949), der seit 45 Jahren in Wuppertal lebt und wegen des Brexit Deutscher wurde, bespielt die Schauräume der Graphischen Sammlung in der Pinakothek der Moderne. Im Fokus der Ausstellung "CRAGG" steht dabei die Zeichnung. Doch weil auch um die 25 Plastiken, Skulpturen und Assemblagen gezeigt werden, hat der Überblick über 50 Schaffensjahre die Anmutung einer Retrospektive.

Dabei ist die Zeichnung für Cragg eigentlich Mittel zum Zweck; nicht Nachahmung, sondern eine "unterschätzte Methode der Beobachtung". Und bietet dabei fantastische Möglichkeiten, schließlich könne man zwischen zwei Punkten, auch "eine Linie durchs Universum" ziehen.

Nach der Schule arbeitete der Sohn eines Luftfahrtingenieurs für kurze Zeit in einem chemischen Labor. Cragg: "Kein angenehmer Ort für einen jungen Mann." Umso besser gefiel ihm das Kunststudium, obwohl er anfangs keine Ahnung hatte, was etwa "skulpturales Arbeiten" bedeutete. Doch dann kamen ihm die Erleuchtungen. Er war beeindruckt von der Minimal Art als "Full Stop in der Kunst - aber nichts für mich." Der Versuch, durch einfache Materialien Alltägliches auf eine andere Ebene zu heben wie in Arte Povera, Minimal und Pop Art haben sein Werk dennoch beeinflusst. Cragg kann beides: Opulenz und Kargheit.

Am Anfang der Schau stehen die "Stacks", dafür hatte Cragg Mitte der 1970er alles Mögliche zum Kubus gestapelt - alte Möbel, Stoffe, Papier. Und ob kristalline Formen aus Glas, amorph gerundete Großskulpturen aus Schichtholz oder kalt spiegelnd verchromtem Stahl: Cragg lässt später kaum einen Werkstoff aus, doch die Vorliebe für vorgefundene Materialien zieht sich durch die Jahrzehnte. Wie auch im Remake der Boden-Arbeit "Crushed Rubble" von 1975: Dafür zerstampften Cragg und sein Team erneut Bauschutt, und es ist erstaunlich, welche Vielfalt an Rot-, Grau- und Brauntönen man darin findet.

Darum schuf er in Wuppertal auch einen Skulpturengarten, in dem sich Natur und Kunst auf Augenhöhe begegnen. Organische und geometrische Formen sind für ihn kein Wiederspruch, denn "kein Körper kommt ohne Geometrie aus", darauf basiert die Formenvielfalt der Natur. Doch am meisten interessiert ihn das Hybride, "nicht Schwein, nicht Elefant, sondern Schweinifant". Cragg: "Die Einförmigkeit entsteht erst aus der ökonomischen Notwendigkeit."

Eigens für die Münchner Schau schuf Cragg 40 Bleistiftzeichnungen, als Teil seiner Naturstudien: Nahsichten von Astwerk, Beeren, Blüten und Dornen, in denen die bis in die Kindheit zurückreichende Naturverbundenheit des Künstlers zum Ausdruck kommt. Schon als Junge waren die Hecken zwischen den Feldern, in denen er allerlei Kleintiere und seltsame Pflanzen entdeckte, sein Lieblingsspielplatz. Und er war früh fasziniert von Fossilien-Funden, diese seien, so erklärt er, "Portale in eine andere Realität". In seiner Kunst spürt man sein Credo: "Der Kern von allem ist das Staunen über die eigene Existenz."

Dabei strahlt der Bildhauer gewitzten Charme und völlig uneitles Sendungsbewusstsein aus. Kein Wunder, dass man sich den einstigen Direktor der Düsseldorfer Kunstakademie (bis 2013) auch als Zauberlehrer in Hogwarts vorstellen könnte: Eine Kreuzung aus Dumbledore und Hagrid.

Tony Cragg, der sein Gehirn als sein wichtigstes Material bezeichnet, kann mit Worten (auch auf Deutsch) so fein modellieren wie mit allen anderen Werkstoffen. Er ist ein empathischer Beobachter, ein sensibler Handwerker, ein präziser Denker. Und so gehört er einer seltenen Spezies an: Universalkünstler im 21. Jahrhundert.

Bis 7. Mai, Graphische Sammlung in der Pinakothek der Moderne, Barer Straße 40, Di bis So 10 bis 18, Do bis 20 Uhr