Kultur

Selbstbestimmte Unterwerfung

Politisch aufgeladen, absonderlich, sexy: Die zweite Festivalhälfte von "Radikal jung" im Volkstheater


Simon Brusis und Susanne Jansen im Stück "Mein Leben in Aspik" nach dem Roman von Steven Uhly.

Simon Brusis und Susanne Jansen im Stück "Mein Leben in Aspik" nach dem Roman von Steven Uhly.

Von Michael Stadler

Es kann einem schon ein bisschen angst und bange werden, wie man da so im Zuschauerraum der Bühne 2 des Volkstheaters sitzt und von dem Australier Dan Daw zu Beginn seiner Show einige Informationen vorab bekommt, Nein, es wird in seiner Performance kein Blut geben, auch keinen Sex, "no fucking", leider. Dennoch kann man jederzeit den Raum verlassen, wenn es einem zu viel wird...

Dann demonstriert Dan mit der Technik, welche Intensität das Licht in manchen Momenten haben wird und welche maximale Lautstärke die Musik. Nach dieser Einleitung startet er mit seinem Kompagnon Christopher Owen alias KrisX in "The Dan Daw Show". Empfohlen ab 16 Jahren ist die Performance, der Ankündigungstext weist bereits auf "Kink-Erfahrungen, Erstickung, Demütigung" und ähnliches hin.

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Szene aus "The Dan Daw Show".

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"Der Meister und Margarita" nach dem Roman von Michail Bulgakow in der Regie von Luise Voigt.


Dermaßen vorgewarnt wird das Publikum in die 90-minütige Show geführt, und ja, Führen und Geführt-Werden ist ein Leitmotiv des Abends. Gezeigt werden sexuell aufgeladene Praktiken, in denen ein Spiel zwischen Dominanz und Unterwerfung aufgemacht wird - im gegenseitigen Einverständnis der Partner. Dan Daw, der sich in seiner Wahlheimat Großbritannien bereits einen Namen als Choreograph und Performer gemacht hat, nennt sich selbst einen "Crip" ("Krüppel"), womit er sich eine abwertende Bezeichnung für Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung selbstbewusst aneignet.

Dass er sich dann auch noch bevorzugt unterwirft, erzeugt bei Ansicht der ersten Spielereien mit KrisX zunächst mal irritierende Bilder des herrischen Umgangs zwischen durchtrainiertem Normalo und unterlegenem Behinderten. Aber da Dan sich bereitwillig von KrisX herumführen und manipulieren lässt, erweist sich die Show vielmehr als Demonstration eines angstbefreiten Umgangs mit der eigenen sexuellen Neigung. Mal kriecht Dan seinem dominanten Partner auf allen Vieren hinterher, mal lässt er sich von ihm trotz Höhenangst auf einen Tisch aufrecht stellen oder, ebenfalls auf allen Vieren, in einen Latexkasten förmlich einschweißen, indem KrisX per Sauggerät die Luft aus dem Kasten pumpt.

So schlimm wie befürchtete ist das Ganze letztlich nicht, sondern eine sorgsam eingeführte, formsicher durchgezogene und unter vibrierender Spannung stehende Selbstermächtigungs-Show, an deren Ende Dan Daw aufrecht und stolz mit luftgefüllten, leuchtenden Drachenstacheln vor dem Publikum steht.


Das Versprechen, radikal und jung zu sein, erfüllt das "Radikal jung"-Festival mit dieser Performance auf jeden Fall. Ein Label weckt ja Erwartungen, die sollten auch erfüllt werden. Gerade in der zweiten Hälfte des Festivals für junge Regie gewann man den Eindruck, dass die vierköpfige Jury mit Genuss einige Inszenierungen eingeladen hat, die das Publikum mit etwas abseitigeren Dingen konfrontieren.

Zum Beispiel mit der detaillierten Beschreibung eines Cunnilingus, mit dem ein junger Mann seine Oma verwöhnt. Steven Uhlys Roman "Mein Leben in Aspik", den Friederike Drews für das Deutsche Theater Berlin adaptiert hat, bietet aber noch weitgehendere Tabubrüche. Die Oma hatte einst eine Affäre mit dem Vater, Ergebnis der Liaison ist die Halbschwester des Enkels, womit die chaotischen Verwandtschaftsverhältnisse noch lange nicht auserzählt sind. Zum Teil mit Masken spielen Susanne Jansen und Simon Brusis sämtliche Rollen und rocken 75 Minuten hin, die in ein - auch im sich verästelnden Bühnengerüst versinnbildlichtes - Familienlabyrinth führen, dass einen schwindlig macht.

Schön auf den Kopf gestellt ist auch die Welt, in die Luise Vogts Adaption von Michail Bulgakows Roman "Der Meister und Margarita" für das Nationaltheater Weimar führt. Natascha von Steigers Bühnenbild ist sensationell: ein in die Horizontale gekippter Hinterhof, mit einer Häuserwand als Laufsteg, an dessen Ende ein Stück Himmel wartet.

In diesem Szenario, dass an die traumhaften Realitätsverzerrungen in Christopher Nolans "Inception" erinnert, inszeniert Vogt eine slapstickhafte Revue der teuflischen Absonderlichkeiten, die Bulgakows Roman durchaus hergibt, selbst wenn die innige Liebe zwischen dem Meister und seiner Margarita letztlich nur optisch in Höhenflüge mündet.


Der Teufel taucht im Moskau der 1930er-Jahre auf, eine schwarze Katze hat er dabei, die auch dem Musical "Cats" entsprungen sein könnte, und in einer Irrenanstalt haust ein ehemaliger Schriftsteller, Kosename "Meister", der einst einen Roman begonnen hatte, in dem Jesus mit Pontius Pilatus ausgiebig dessen Todesurteil diskutiert. Beide spuken in Vogts Inszenierung herum, was bei dem zuschauenden Volkstheater-Intendant und Passionsspiele-Regisseur Christian Stückl einige wohlige Reminiszenzen ausgelöst haben könnte. So überdreht-energievoll und teilweise witzig der Abend ist, so nimmt er einen nicht ganz mit, weil im Gewühl der Groteske das Gefühl auf der Strecke bleibt.

Ähnlich unsentimental und mit viel Verve hauen einem Regisseur Dennis Duszczak und sein Team ihre Dortmunder Adaption von Sibylle Bergs dystopischem Roman "GRM. Brainfuck" um die Ohren. Das sechsköpfige Ensemble nimmt sich der vier zentralen Jugendlichen aus dem Roman an und berichtet von der Rebellion, dem (digitalen) Rachefeldzug dieser Gang im Post-Brexit-Großbritannien.

Dabei ermächtigen sie sich vor allem in der Erzählung selbst. Das junge, divers zusammengestellte Sextett wirft sich frech in die Bergsche Gesellschaftssatire hinein, flottiert gesangssicher zwischen düster wummernder Grime-Musik und konventionellen Musicaleinlagen. Und wenn hier mal gevögelt wird, dann pornös heutig mit nackten wippenden Brüsten und dem Mann als penetriertem Lustobjekt.

Geschockt ist man davon nicht, sondern überaus belustigt. Gegen Ende wird Stings "Every Breath You Take" gesungen; als sympathisierender Wink zum digitalen Überwachungsstaat soll das Publikum die leuchtenden Smartphones schwenken. Einige kommen der Aufforderung bereitwillig nach: Sich hin und wieder zu unterwerfen, kann ja auch Spaß machen. Beziehungsweise: Wenn man schon ständig heimlich kontrolliert wird, kann man sich dabei wenigstens gut und ein bisschen radikal jung fühlen.