Kultur

Mein Glaube an die Kirche ist am Ende

Christian Stückl über Thomas Melles "Bilder von uns" und eigene Erlebnisse in Internaten


Christian Stückl

Christian Stückl

Von Anne Fritsch

In unschöner Regelmäßigkeit kommen Fälle von sexuellem Missbrauch im Umfeld der katholischen Kirche ans Licht. Christian Stückl inszeniert nun am Volkstheater ein Stück zum Thema: Thomas Melles "Bilder von uns". Ein Gespräch über den Text, Stückls persönlichen Bezug zum Thema und die Frage, was das alles mit seinem Glauben macht.

AZ: Herr Stückl, wie sind Sie auf das Stück von Thomas Melle gekommen? Haben Sie gezielt nach einem Text zum Thema gesucht?

CHRISTIAN STÜCKL: Die Dramaturgie hat mir mehrere Stücke zu verschiedenen Themen vorgeschlagen. Als ich den Text von Thomas Melle gelesen habe, habe ich gedacht: Ja, das muss man machen. Wenn ich jetzt drüber hocke, ist es natürlich auch nicht ganz unkompliziert, das Ganze. Aber ich finde es gut, wie Melle das Thema angeht. Er möchte nicht den Missbrauch zeigen, keinen Pater, der an einem Kind rumgrapscht. Stattdessen nimmt er vier erwachsene Männer, die durch ein Foto gezwungen werden, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen.

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Alexandros Koutsoulis und Carolin Hartmann in Thomas Melles "Bilder von uns" im Volkstheater.

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Thomas Melles "Bilder von uns" im Volkstheater

Es kommt kein Täter zu Wort, nur die Männer, die aus den damals missbrauchten Jungen geworden sind. Sie waren sich dessen, was damals geschehen ist, lange nicht bewusst, haben es verdrängt.

Das Spannende ist, dass jeder von ihnen anders damit umgeht. Es gibt da nicht die eine richtige Umgangsweise damit. Melle selbst hat in einem Interview gesagt, wenn es für jemanden gut ist, das zu verdrängen, soll er verdrängen. Er möchte da nicht zum Richter werden. Der einzelne darf mit seiner Vergangenheit machen, was er will. Wenn ich jetzt dieses Stück inszeniere, denke ich immer, ich muss mich auf eine Seite, einen Argumentationsstrang draufsetzen. Das Spannende aber ist: Das ist gar nicht möglich, das sind einfach vier Menschen, die mit dem Erlebten völlig unterschiedlich umgehen.

Nämlich wie?

Einer landet im Selbstmord. Für den anderen wird es wichtig, darüber zu reden, auch wenn er sich im Darüber-Reden verwurschtelt. Einer sagt, er hat einfach keine Erinnerung. Und einen stresst die Auseinandersetzung, weil er merkt, er wird zum Opfer gemacht, zum Betroffenen.

Aber das Geschehene wirklich zu bewältigen und zu verarbeiten, das ist keinem von ihnen gelungen.

Am ehesten vielleicht Johannes, der aber auch am kürzesten in der Schule war. Da erinnere ich mich natürlich sofort an meine eigene Zeit im Gymnasium in Ettal. Wir haben das alle irgendwie mitgekriegt, aber wir waren in der Pubertät und konnten es nicht wirklich einordnen. Und wenn es einem wie mir nicht persönlich passiert ist, dann musste man sich auch nicht damit auseinander setzen.

Und konnte es als Kind ja wahrscheinlich auch gar nicht.

Ja, die Möglichkeit hast du als Kind oder Jugendlicher mitten in der Pubertät gar nicht. Darum glaube ich auch, dass die Verjährung eines der größten Probleme ist. Wenn überhaupt jemand in der Lage ist, über so etwas zu sprechen, dann erst sehr viel später - und dann darf das nicht verjährt sein.

Das Thema ist mit einer großen Scham behaftet. Und wer darüber spricht, dem muss ja auch erst geglaubt werden.

Ich war ja erst in Ettal, aber nicht im Internat. Und die Externen waren da immer ein bisschen weiter draußen, weil sie in der Nacht nicht da waren. Später bin ich so mit 15 Jahren ins Internat in Weilheim gekommen - und da habe ich es schon mitgekriegt. Da war einer, der hat uns immer abends im Bett unter die Decke gegriffen und angefasst. Wir haben uns immer extra fest eingewickelt. Ich habe immer gesagt: Wenn der das einmal bei mir macht, bring ich ihn um. Es ist dann passiert. Ich habe ihn nicht umgebracht, aber ich bin nachts aufs Fahrrad gestiegen, heimgeradelt und habe es meiner Mutter erzählt. Die hat mir sofort geglaubt. Das war, glaub ich, mein Glück. Das war jetzt ein Übergriff, den habe ich verkraftet. Vor allem, weil meine Mutter hinter mir stand. Wenn das nicht so gewesen wäre, wäre es vielleicht schwieriger geworden.

Aber das heißt schon, dass alle es mitgekriegt haben.

Ja, aber es war einfach schräg. Wir haben zum Beispiel gemerkt, der Pater ist gerne in unserer Gegenwart nackt, und haben uns gefragt, warum er keine Badehose anzieht. Wir haben gedacht, das ist komisch, und haben instinktiv mit der Badehose geduscht nach dem Schwimmen. Wir konnten die Sexualität darin nicht wirklich einordnen, aber wir haben gespürt, dass etwas nicht stimmt. Viel später habe ich einen, der länger auf der Schule geblieben ist, darauf angesprochen. Er hat gesagt, er hätte keine Sensoren dafür gehabt, aber vielleicht sei "der Pater in seiner Liebe zu den Buben etwas weit gegangen". Da habe ich gesagt, das sei ein Scheißwort, mit Liebe hat das nichts zu tun! Der Bruder von meinem Schwager hat sich später das Leben genommen wegen der Vorfälle im Internat in Ettal. Das ist wie im Stück von Melle: Für den einen spielt es nur eine bedingte Rolle, aber dem anderen macht es das Leben kaputt.

Und die Überlebenden kämpfen mit der Opferrolle, in die sie sich gedrängt fühlen.

Ja, sie wollen nicht nur als Beschädigte gesehen werden. Eigentlich handelt das Stück ja gar nicht von dem Missbrauch an sich, denn über die Tat sind wir uns ja alle einig. Da gibt es keine Rechtfertigung. Es geht vielmehr um unseren Umgang damit.

Und den der Kirche.

Die Kirche hat überhaupt keinen Umgang damit gefunden. Das sind lauter erwachsene Männer, die geschwiegen haben. In Ettal wurde den Opfern später Geld für eine psychologische Behandlung angeboten, das war alles. Ich bin da sprachlos. Und solche Vorfälle tauchen in dieser Kirche immer wieder auf.

Was macht all das mit Ihrem Glauben?

Je älter ich werde, desto weniger glaube ich. Bei manchen ist es vielleicht der umgekehrte Weg, aber bei mir nimmt es immer mehr ab. Mein Glaube an die Kirche als Institution ist am Ende.

Trennen Sie da zwischen Institution und Glauben?

Ich glaube, wir können das gar nicht. Dieser Jesus, der wollte wirklich viel, aber vielleicht muss man heute auch sagen: Er ist ein Gescheiterter. Die Welt zu verändern, ist ihm nicht gelungen. Ich kann fast alles unterschreiben, was er wollte. Auch eine Diskussion, ob und wieviele Waffen wir in die Ukraine liefern, ist gerechtfertigt. Aber andererseits: keine zu schicken, geht eben auch nicht. Wir haben uns das wohl alles gebaut - einen Gott, die Religion - weil wir es nicht aushalten können, dass es vielleicht doch irgendwann einfach vorbei ist. Eine Tante von mir hat nie an Gott geglaubt. Aber am Schluss hat sie zu meiner Mutter gesagt: "Roswitha, hol den Pfarrer. Sicherheitshalber. Schaden tut's ned."

Premiere heute, 19.30 Uhr auf der Bühne 1. Weitere Vorstellungen am 4., 9., 10., 16. und 21. April. Karten unter Telefon 523 46 55 und online über www.muenchner-volkstheater.de