Abschied von den Münchner Kammerspielen

Lilienthal: "Lieber fünf aufregende Jahre als zehn, die sich ausläppern"


Seinen Abschied als Intendant der Kammerspiele gibt Matthias Lilienthal am Samstag im Olympiastation.

Seinen Abschied als Intendant der Kammerspiele gibt Matthias Lilienthal am Samstag im Olympiastation.

Von Robert Braunmüller / TV/Medien

Nach fünf Jahren Amtszeit verabschiedet sich der Intendant der Kammerspiele gemeinsam mit seinem Ensemble mit einer Performance im Olympiastadion.

Selbst vor Matthias Lilienthal macht das Corona-Virus nicht Halt. Statt einem großen Schaulaufen zum Finale seiner fünfjährigen Intendanz musste Lilienthal mit seinen Kammerspielen zuletzt ins Internet ausweichen. Mit "Wunde R" und "Oracle" fanden immerhin noch zwei Premieren in der Kammer 2 und 3 statt; und an diesem Samstag gibt es eine letzte Performance im Olympiastadion, mit dem ganzen Ensemble. "Opening Ceremony" nennt sich Lilienthals kleine Abschiedsgeste und bezieht sich damit schon im Titel auf die Eröffnung der Olympischen Spiele in Japan, die auf 2021 verschoben wurden.

AZ: Herr Lilienthal, wie lässt sich denn eine Performance im Olympiastadion organisieren?
MATTHIAS LILIENTHAL: Über das Kulturreferat. Das Olympiastadion gehört zu den kulturellen Flächen der Stadt. Wobei wir schon länger mit der Olympiapark München GmbH in Kontakt standen: Toshiki Okada hatte im Frühjahr einen Teil der 24-Stunden-Performance "Olympia 2666" nach dem Roman von Roberto Bolaño in der VIP-Lounge und auf dem Rasen geprobt, aber das ganze Projekt musste nach Ausbruch der Pandemie abgeblasen werden. Gleichzeitig steht das Stadion seit längerem leer. Die Beschäftigten der Olympiapark GmbH wurden zu 90 Prozent in Kurzarbeit geschickt und meinten zu uns: Wir sind so traurig, dass der Bolaño nicht stattfindet, wollt ihr nicht was anderes machen?

Eine Theater-Performance im Fußballstadion klingt schon außergewöhnlich.
Ganz neu ist das aber nicht. Ich selbst habe im Winter 1977 die "Winterreise", inszeniert mit dem Ensemble der Schaubühne, im Berliner Olympiastadion erlebt. Ich war damals 17, 18 Jahre alt und schaute wie alle der 200 Zuschauer, eingehüllt in zwei Decken, bei minus 20 Grad Kälte zu. Klaus Michael Grüber hatte Hölderlins "Hyperion" mit der Geschichte der RAF verschraubt. Ich weiß noch, dass eine Currywurstbude auf der Laufbahn stand, an der Otto Sander irgendwann herumnestelte.

Und jetzt eine "Opening Ceremony" zum Abschluss - allein, weil das lustig widersprüchlich klingt?
Nein. Toshiki Okada macht eine Inszenierung im Rahmenprogramm der Olympischen Spiele in Japan. Er hatte die Hälfte der Proben in Yokohama schon hinter sich, als die Pandemie ausbrach. Gleichzeitig steht er natürlich wie viele andere Olympia total kritisch gegenüber.

Was sich jetzt in der Performance auch ausdrücken wird?
Das wird man sehen. Er hat sich jedenfalls zum Teil bei den Texten bedient, die er sich bereits für Yokohama ausgedacht hat.

Das Kartenkontingent ist stark begrenzt, dabei ist das Olympiastadion riesig.
Ja, aber es ist nun mal weiterhin so, dass für Open-Air-Veranstaltungen nur 200 Zuschauer erlaubt sind. Das Kreisverwaltungsreferat hat uns aber Hoffnung gemacht, dass 400 Leute dabei sein dürfen.

Toshiki Okada haben Sie für fünf Tage Proben plus Premiere aus Japan einfliegen lassen. Wenn man sich wie Sie ein globalisiertes Theater wünscht, mögen sich Fragen des Klimaschutzes doch verstärkt stellen.
Klar. Diesbezüglich hat uns die Krise schon neue Wege gewiesen. Das Berliner Theatertreffen in seiner Online-Version hatte jetzt etwa in Asien so viel Relevanz wie niemals zu vor. Oder der französische Choreograph Jérôme Bel sagt, er reist prinzipiell nicht mehr, sondern probt seine New Yorker Inszenierungen übers Netz. Solche Dinge sind in Bewegung gekommen und das ist gut so. Auf der anderen Seite ist mir die Internationalisierung extrem wichtig: Ich möchte auf Begegnungen mit Menschen aus Südamerika, Asien oder Afrika nicht verzichten. Für ein globales Miteinander halte ich das für absolut essentiell. Hier gilt es, für die Zukunft neue Konzepte zu finden.

Planen Sie trotz der Pandemie weiterhin ein Kulturfestival des Mittleren Ostens in Frankfurt?
Ja, wir stellen jetzt im Sommer einen Antrag. Entweder gibt es im Herbst 2021 wieder die Möglichkeit, zwischen dem Mittleren Osten und hier zu reisen. Oder wir laden Künstler aus dem Mittleren Osten ein, die bereits in Europa leben. Berlin ist die achtgrößte syrische Stadt.

So finden sich in der Krise immer wieder Wege. Was die Finanzierung der Kammerspiele angeht, haben Sie schon befürchtet, dass dem Haus Einbußen von bis zu vier Millionen Euro bevorstehen.
Ja, aber das scheint sich doch wieder einzurenken. Die Stadt hat jetzt die doppelte München-Zulage für die Kammerspiele für das nächste Jahr bewilligt. Wenn hier während der gesamten nächsten Spielzeit nur vor 200 Leuten gespielt werden kann, entstehen aber natürlich Mindereinnahmen, die man kompensieren muss.

Für Sie war "Dionysos Stadt" einer der großen Wendepunkte Ihrer Intendanz. Gab es für Sie einen ähnlichen Erfolg schon im ersten Jahr?
Ich finde, dass es absolut schöne Aufführungen gab. "Caspar Western Friedrich" von Philippe Quesne oder "La Sonnambula" von David Marton. Den "Kaufmann von Venedig" fand ich ebenfalls gelungen. Und ich war, glaube ich, der Einzige, der auch "Fifty Grades of Shame" von She She Pop total mochte.

Die Durchmischung des Ensembles mit Akteuren der freien Szene war dennoch nicht ganz leicht.
Wir sind damals mit dem Wunsch angetreten, Dinge auszuprobieren und etwas zu riskieren. Mit diesem Wunsch sind manche Sachen wunderbar geworden und andere sind verrutscht. Ein Kritiker meinte zu "50 Grades of Shame", dass er begeistert gewesen wäre, wenn er das in der Muffathalle gesehen hätte. In den Kammerspielen fand er es aber scheiße. Sowas kann ich nicht nachvollziehen. Natürlich gibt es ein unterschiedliches Framing durch die Kammerspiele oder die Muffathalle oder das Residenztheater, aber grundsätzlich berührt mich doch eine Aufführung oder sie tut es nicht.

Aber mit einem Raum sind auch bestimmte Traditionen und persönliche Erinnerungen verbunden.
Ja, ich weiß. Es kam jetzt auch öfter die Frage auf: Hättet ihr nicht behutsamer anfangen können? Aber es ist nun mal so, dass man bei einer ersten Spielzeit Sachen extrem setzen muss. Wenn man da keine starken Akzente setzt, lassen sich Änderungen später nicht mehr so leicht durchsetzen.

Sie haben uns mal von Anfeindungen in den Straßen Münchens erzählt. Was wurde da gerufen?
"Sie machen unser Theater kaputt. Verschwinden Sie. Geh zurück nach Preußen, du Arschloch." Solche Dinge. Ich bin ja auch ein lieber Mensch und gehe jetzt tatsächlich zurück nach Preußen.

Sie machen eigentlich den Eindruck, dass solche Sprüche an Ihnen abperlen.
Das hat mich damals schon sehr getroffen. Sowas lässt einen nicht kalt.

Und das hat sich mit der Zeit gedreht?
Schon. Zunächst nach dem Entschluss der Stadt, mir keinen neuen Vertrag anzubieten. Da haben die Leute plötzlich sich anders verhalten. Dann hat CSU-Stadtrat Pretzl mir den Gefallen getan, den Oberbürgermeister zu bitten, dass dieser den Kammerspielen die Teilnahme an der "Ausgehetzt"-Demo verbieten solle. Da meinten doch viele: Der Lilienthal geht uns zwar auf den Wecker, aber das geht jetzt zu weit. Dann kam "Dionysos Stadt", wir wurden zum "Theater des Jahres" gewählt…

… und das Haus war plötzlich voll.
Im letzten Winter war das Haus mit 85 Prozent ausgelastet, was für die Kammerspiele eine außergewöhnlich hohe Platzauslastung ist.

Man könnte auch in Frage stellen, ob Erfolg überhaupt der richtige Gradmesser für Kunst ist.
Naja, Theater in halbleeren Räumen, wie wir das in der zweiten und dritten Spielzeit öfters mal hatten, gefällt keinem. Wenn das Parkett halb leer ist, applaudieren die Zuschauer zwar besonders viel, aber das ist dann auch mit Mitleid garniert. Ein knallvolles Haus macht natürlich total Spaß. Das haben wir in dieser Spielzeit auch total genossen.

Können Sie denn dem was abgewinnen, dass die Intendanz nach fünf Jahren vorbei ist?
Ja. Das war sicherlich in den 10er-Jahren die Intendanz im deutschsprachigen Raum, die die meisten Höhen und Tiefen hatte. Wir sind stolz darauf, dass wir gezeigt haben, dass ein Modell der Hybridisierung im Theater und eine weitergehende Internationalisierung der Kammerspiele möglich sind. Ich würde mal sagen: Lieber fünf aufregende Theaterjahre als zehn Jahre, die sich ausläppern.

Und dennoch bricht etwas ab.
Natürlich ist es schade, dass wir das nicht noch drei Jahre länger machen können. Aber dadurch, dass jetzt einige ausschwirren und in andere Betriebe hineingehen, geht diese Entwicklung auch weiter. Wenn dieser Begriff gerade nicht so schwer belegt wäre, könnte man von einem Virus sprechen.

Oha. Das Lilienthal-Virus.
Ja (lacht). Mein Name steht aber dann stellvertretend für das ganze künstlerische Team am Haus.

Haben Sie noch einen Wunsch für München?
Mein Wunsch für München wäre, dass in dieser Stadt künstlerische Positionen sehr viel diverser aufgestellt wären und dass es hier in absehbarer Zeit ein gut ausgestattetes Produktionshaus gibt.

Dafür braucht es viel Geld und das in Zeiten von Corona.
Ach, Geld ist doch hier nicht das Thema. Und jetzt wäre die Investition in Kultur umso wichtiger.

Sie gehen nach Berlin zurück. Wie oft werden Sie München besuchen?
In den nächsten zwölf Monaten eher selten. Meine Tochter hat aber sehr viele Freunde hier und ich habe sehr viele Freunde hier, also werden wir eines Tages wieder öfters hierherkommen.

Aber Sie brauchen erstmal Abstand zur Stadt?
Ja. Ich bin auch nach der Intendanz am HAU aus Berlin geflohen und war für zwölf Monate in Beirut. Ich bedanke mich sehr bei der Stadt, dass sie mir dieses luxuriöse Spielzeug angeboten hat. Es war eine wichtige Zeit für mich, vielleicht ja auch für München. Jetzt aber brauche ich eine Pause.

Und wenn die Leute Sie hier eines Tages wieder auf der Straße sehen: Was sollen die Ihnen zurufen?
Sie sollten mich am besten gar nicht mehr erkennen.

"Opening Ceremony", Samstag, 16 Uhr, Olympiastadion/Nordeingang, Karten unter Telefon 233 966 00