Kultur

"Glück sind die Mitmenschen"

Gérard Depardieu spielt in "Der Geschmack der kleinen Dinge" einen Sternekoch. Anlass genug, mit dem großen Schauspieler über Lebensphilosophie und Genuss zu reden


Gérard Depardieu vor wenigen Tagen bei der Premiere von "Der Geschmack der kleinen Dinge" im Cinema Paris in Berlin.

Gérard Depardieu vor wenigen Tagen bei der Premiere von "Der Geschmack der kleinen Dinge" im Cinema Paris in Berlin.

Von Mariam Schaghaghi

Pünktlich um 9 Uhr morgens kommt er den Hotelgang entlang zum Interview in Berlin. Eine massige Figur in dunkelblau-schwarz gekleidet, eine Weste über dem Hemd. Wie meisterlich er die zarten Saiten seiner Kunst beherrscht, kann man ab Donnerstag in "Der Geschmack der kleinen Dinge" bestaunen, wenn er schwitzt, streitet, verstummt und verstört stiert oder schwelgt. Der 74-Jährige spielt einen Sternekoch, der den Appetit am Leben verliert und sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit und vergangenen Köstlichkeiten macht.

AZ: Monsieur Depardieu, Sie besitzen Restaurants, sogar ein Fischgeschäft. Wie groß ist Ihre Passion fürs Kochen?

GÉRARD DEPARDIEU: Ich liebe das Kochen, um jemandem ein Vergnügen zu bereiten, selbst wenn man sich nicht so gut kennt. Meistens inspiriert mich ein Einkauf auf dem Markt. Da sehe ich etwas und denke, das koche ich für diese oder jene Person. Ich liebe gute Produkte, deswegen gehe ich am liebsten auf Wochenmärkte. Das ist für mich der Inbegriff für ein gutes Leben.

Haben Sie viel Verständnis für die Sache der Köche?

Ich kenne viele Köche, und jeder klagt, wie schwierig das Metier ist. Nicht umsonst gibt es so viele Gewaltausbrüche in Küchen. Wenn ein Koch keine Lust mehr hat, gelingt ihm nichts mehr - wie das auch bei Malern passiert. Matisse hat viele seiner Leinwände zerrissen, Van Gogh hatte den Glauben an sich verloren.

Der Sternekoch, den Sie spielen, hat alles erreicht, hat Familie, Erfolg, Fans. Wie Sie. Aber keine Spur von Joie de vivre.

Koch zu sein ist ein schwerer Beruf, besonders auf hohem Niveau. Dieser Sternekoch hat es umso schwerer, weil seine Frau mit dem alles entscheidenden Restaurant-Kritiker eine Affäre hat. Er ist mit allem unzufrieden, vor allem mit sich selbst. Er wird immer unausgeglichener, nervöser, erlebt einen Kollaps, erleidet einen Herzinfarkt, aber schont sich nicht. Er versucht wiederzufinden, was ihn am Kochen mal begeistert hat, und reist nach Japan.

Was beeindruckt Sie an Japan?

Die japanische Gesellschaft, die japanische Küche und den Sinn für Zen finde ich faszinierend. Mir gefällt auch die japanische Literatur. Viele dieser kleinen Preziosen verschwinden quasi unbemerkt, sind aber so wunderbar. Geradezu perfekt.

Reisen öffnet Herz und Horizont. Hat es Ihnen während der Pandemie gefehlt?

Nein. Ich war ja trotzdem unterwegs, meist an der Loire, auf meinem Weingut. Ich mache ja immer, was ich will, und daher war ich meist in den Weinbergen. Und wenn ich nach Paris musste, habe ich mich ins Auto gesetzt. Wir hatten die Autobahn fast für uns allein, keine Polizei weit und breit. Herrlich.

Liegt das Glück für Sie in den kleinen Dingen des Lebens, wie der Titel des Films besagt?

Ah oui! Genau das entspricht auch der Kunst der japanischen Küche. Und es bedarf Respekt, den Japaner allem entgegenbringen - allein mit welcher Hingabe sie Zen-Gärten kultivieren! Jeder Kiesel ist wichtig. Im Geschmack der kleinen Dinge kann man vielleicht das Essentielle finden. Das ist auch ein Prinzip der Kunst: Ordnung in etwas zu bringen und es in Einklang mit der Natur und sich selbst zu bringen. Zusammen mit der richtigen Atmung entspricht das exakt dem Prinzip des Zen. Wenn man die Kontrolle über sich verliert, kann man nicht mit den Unglücksfällen des Lebens umgehen.

Einer war sicher der Tod Ihres Sohnes Guillaume 2008. Haben Sie selbst je den Geschmack am Leben verloren?

Natürlich. Das passiert wohl jedem einmal. Nur so wird man sich bewusst, dass das Leben vielleicht doch ganz wunderbar sein kann. Es gibt aber nun mal Momente, wo uns Dinge und Erinnerungen einholen, ob von unserer Kindheit oder unserer Herkunft. Aber ich hatte so viel Glück, dass es für mich eigentlich eine Verpflichtung war, das Leben anzulächeln. Und das Lächeln hat mir wiederum den Geschmack am Leben gegeben. Ich war ein unerwünschtes Kind, das habe ich ja schon in meiner Biographie geschrieben, aber ich hab keinen Grund, meine Eltern oder selbst meine Großeltern zu verurteilen...

... die einfache Arbeiter waren, Ihr Vater war Schmied, Ihre Eltern hatte nie Lesen und Schreiben gelernt....

Ich verurteile niemanden. Aber ich achte darauf, ob jemand Blödsinn redet oder nicht.

Sie brachen die Schule ab, waren Gauner, Gelegenheitsdieb - und wurden Frankreichs größter Star.

Schauspieler zu sein, das ist die Kirsche auf dem Kuchen. Ich wusste nicht, ob ich es schaffe, aber ich ahnte: Ich werde Schauspieler oder nichts. Ich war damals verliebt ins Leben und in die Sprache. Eigentlich habe ich die Schönheit der Sprache durch Bücher entdeckt, und las erst laut, dann rezitierte ich richtig. Ich hatte eine turbulente Jugend, war Einzelgänger und oft einsam, trotz meiner fünf Geschwister. Ja, ich war immer außerhalb dieses Clans, schon deswegen wurde ich zum Beobachter, der das Leben gern von außen beobachtete. Oder ich verzog mich mit meinen Büchern, ich liebte Jean Giono oder Peter Handke.

Sie waren sogar mal für einen Oscar nominiert und erwarben unzählige andere Trophäen. Worauf sind Sie wirklich stolz?

Die Preise sind mir ziemlich egal. Ich bin stolz, dass ich mit einigen Menschen, von denen ich das nie geahnt hätte, ganz wunderbare Erlebnisse und Abenteuer teilen konnte. Ich habe mehr Menschen geliebt als ich es mir vorstellen konnte. Außerdem zeigt uns dieser Beruf die Schönheit des Lebens: In dem Moment, wo die Leute sich nicht mehr im Alltag und hinter ihren Berufen verschanzen, sondern sich mal heraustrauen, entsteht plötzlich Fröhlichkeit und Lebensfreude. Ich erzähle gern Geschichten für Leute, die daran Vergnügen haben.

Gerade die Filme, die Sie mit Pierre Richard drehten, wurden in Deutschland Klassiker. Wie war es für Sie, hier mit Ihrem alten Kumpel wieder vor der Kamera zu stehen?

Wunderbar. Pierre ist ein ganz außergewöhnlicher Kollege und Freund. Ich sehe ihn privat recht häufig, es geht ihm sehr gut. Pierre und ich haben ja auch schon in recht schwierigen Filmen - wie denen von Francis Veber - zusammen gespielt. Es ist so verrückt, dass nun ausgerechnet Veber mit seinen 82 Jahren vor kurzem sagt, dass Pierre Richard sexbesessen ist. Das ist nicht nur bedauerlich, das sagt man doch nicht über einen Mann, der 88 wird, der Kinder, Enkel und Urenkel hat! Ich riet Pierre, ihm mal richtig die Meinung zu sagen!

Sie haben einige Herz-OPs und Bypässe hinter sich. Fühlten Sie sich je todesgeweiht?

Nein. Selbst bei einem Unfall auf einer Rennstrecke, bei dem ich hätte tot sein müssen, habe ich nicht an den Tod gedacht. Aber ich hatte das Glück, auf fabelhafte Chirurgen zu treffen. Diese Ärzte setzten mir eine Vene aus der rechten Wade in den Brustkorb ein. Die menschliche Maschine ist ja zum Glück wunderbar ausgerüstet. Das meiste gibt es doppelt.

Sie beschreiben das wie die Reparatur eines Motorrads!

Die Medizin und ihre Fortschritte, die sie seit den 70er Jahren gemacht hat, begeistern mich. Ich habe mal in den Siebziger einen Film gedreht, "Quartett Bestial". Damals habe ich mir viele Operationen am offenen Herzen angeschaut. In der Nähe des Sets gab es eine Klinik, und ich ging öfters dorthin und stand dann mit im OP. Ich fand es einfach faszinierend, diesen Gesundheits-Arbeitern bei ihrem Wirken zuzuschauen.

Kann Sie nichts schrecken?

Angst ist etwas, das im Kopf passiert. Ich leide unter Orientierungsverlust unter Wasser, da wird mir schwindelig. Und einmal, als ich auf den Bahamas "Mein Vater, der Held" drehte, sprang ich vom Boot, weil ich etwas Weißwein intus hatte, und genoss es, in diesem wunderbaren karibischen Ozean ein paar Runden zu drehen. Es liegt in der Natur der Dinge, dass das nicht gut gehen konnte. Plötzlich sah ich unter mir einen Fisch.... Der war etwa 15 Meter tiefer, man konnte dort bis auf den Grund schauen, und der war nicht größer als 50 Zentimeter. Aber was hatte ich da Angst! Am seltsamsten fand ich, dass dieser Fisch sich nicht bewegte. Sondern mich zu beobachten schien. Dann ging meine Fantasie mit mir durch. "Was ist das für ein Fisch? Der will mich angreifen, vielleicht hat er einen Giftstachel...". Ich schaute mich nach dem Boot um. Es war ein ganzes Stück weit weg, also fing ich an, wie ein Besessener zu schwimmen, so schnell ich konnte. Das Tempo hätte mich eher das Leben kosten können als dieses arme Fischlein, das auf nichts Böses aus war und sicher nur in Ruhe eine angenehme Wasserströmung genießen wollte. Alors: Angst kann idiotisch sein.

Woraus ziehen Sie mit Ihren 74 Jahren am meisten Glück?

Aus meinen Mitmenschen. Ich schaue mich um, ich studiere sie, mich faszinieren Menschen mehr als das, was man im Fernsehen sieht oder von Politikern hört. Außerdem bin ich fasziniert von der Geschichte und frage mich oft, wie man mit den menschenunwürdigen Dingen des Lebens, mit all den Kriegen und den ganzen Invasionen umgeht. Aber das gehört wohl zum Irrsinn der Menschen.

Wenn Sie über Krieg und Irrsinn sprechen: Es ist fast ein Jahr her, dass Russland die Ukraine angegriffen hat.

Für mich hat sich nichts verändert. Ich bin noch immer Russe. Wenn ich ein Land liebe, dann immer wegen seiner Kultur. Aber ich vermeide, über das Thema zu reden. Niemand ist in der Lage, dazu etwas wirklich Vernünftiges dazu zu sagen! Niemand!

Sie haben ja schon Position bezogen, auf Instagram verurteilten Sie den "Bruderkrieg"...

Ich kann es gar nicht leiden, wenn man Politik und Schauspiel vermischt. Mehr möchte ich zu dem Thema nicht mehr sagen als: Krieg ist großer Schwachsinn.

AZ-Interview

mit Gérard Depardieu

Der Schauspieler wurde am 27. Dezember 1948 in Châteauroux, in Indre, Centre-Val de Loire geboren. Er zählt seit den 70er-Jahren zu den bedeutendsten Charakterdarstellern des französischen Films. Daneben spielte Depardieu auch in populären Komödien wie den Asterix-Filmen.