Dok.fest München

„Die Heimreise“: Ein volles Leben


Verwandtenbesuch: Bernd Thiele (rechts) in Berlin.

Verwandtenbesuch: Bernd Thiele (rechts) in Berlin.

Von Paul Nöllke

Tim Boehme erzählt in "Die Heimreise" von einem Mann, der sich auf die Suche nach seiner Herkunft macht

Gleich in den ersten Minuten fällt der Satz, der ans Herz geht: "Dann bin ich manchmal schon ein bisschen stinkig auf meine Mutter, warum die mich so in die Welt gesetzt hat, warum sie mich nicht gleich im Bauch getötet hat." Bernd Thieles Mutter hat während ihrer Schwangerschaft zu viel getrunken, ihr Sohn kam mit einer Behinderung auf die Welt. Er wuchs in Heimen auf und arbeitet auf dem Bio-Betrieb Hof Sophienlust bei Kiel in Schleswig-Holstein, wo er betreut wohnt. Da fühlt er sich wohl, aber: "Das ist eine Ersatzfamilie, es ist nicht die Familie, die jedes Kind so hat."

Ein Road Movie wie ein gut geschriebener Spielfilm

Die Frage bohrt in ihm: "Wer ist denn wirklich meine Mutter gewesen?" Mehrmals sagt Bernd, er fühle sich wie geklont. Der Filmemacher Tim Boehme (Regie / Kamera) begleitet Bernd und seinen Freund Joann, der auch auf Sophienlust lebt, auf der Suche. Das Ziel: Berlin.

"Die Heimreise" ist ein Road Movie, wie man es geschriebenen Spielfilm nicht besser hätte machen können. Das liegt unter anderem am geschickten Schnitt, der immer wieder zurückblickt und dadurch einen schönen Spannungsbogen aufbaut. Dann die gegensätzlichen Orte: Vom beschaulichen Landleben geht es mit dem Zug nach Hamburg, dann weiter nach Berlin. Und schließlich die Protagonisten: Der ernsthafte Bernd, der nicht lesen kann, und Joann, der immer einen flotten Spruch parat hat und mit dem Mobiltelefon in der Hand den Weg sucht, bilden ein Gespann, das sich ideal ergänzt. Die beiden Männer frotzeln herum, am Ende sorgen sie doch füreinander wie vertraute Freunde.

Eine absolute Schau-Empfehlung

Allein der Irrweg durch den Hamburger Hauptbahnhof, die Suche nach dem Hotel und die Kiezführung sind es wert, den Film anzuschauen. Staunend streifen die beiden durch die nächtliche Glitzerwelt der Reeperbahn. In Berlin besuchen die beiden Männer die Orte, an denen Bernd als kleines Kind gelebt hat oder an denen Verwandte seiner Mutter gewohnt haben. Und tatsächlich finden sie bald einen Onkel. Es ist rührend anzusehen, wie sich da in einer Berliner Wohnung zwei Einsame finden, die doch durch die Familie miteinander verbunden sind.

Auffällig ist, dass sich vor allem Bernd Thiele vor der Kamera überhaupt nicht in Pose wirft, sich nicht inszeniert - das ist fast der größte Unterschied zu anderen Menschen, die sich sonst vor der Kamera präsentieren. Bernd und Joann buhlen nicht um Aufmerksamkeit - anders als einige Menschen, die in Hamburg vor die Kamera springen. Wir sehen zwei Männer, die mit dem Herzen voran in die Welt hineingehen, die gemeinsam ihre Einschränkungen überwinden. Sie sind die Helden eines Films, der davon erzählt, wie wichtig es ist, seine Wurzeln zu kennen. Unterhaltsam, herzerwärmend, bewegend - absolute Schau-Empfehlung!

Bis zum 24. Mai zeigt das Dok.fest 121 Filme, die man nur online sehen kann. Das kostet pro Film 4,50 Euro - oder 5,50 Euro, wenn man den Solidaritätsaufschlag für die Partnerkinos City/Atelier, Rio und Maxim zahlt. Der Festivalpass für alle Filme kostet 50 Euro. Die meisten Filme sind die ganze Zeit verfügbar, einige unterliegen Beschränkungen.
Alle Infos unter dokfest-muenchen.de