Kultur

Das Ich und die Gesellschaft

Mateja Koležnik mischt im Residenztheater zwei Versionen von "Antigone"


Linda Blümchen (Ismene, links) und Vassilissa Reznikoff (Antigone).

Linda Blümchen (Ismene, links) und Vassilissa Reznikoff (Antigone).

Von Anne Fritsch

Im Jahr 2015 inszenierte Mateja Koležnik am Residenztheater "Ödipus" von Sophokles, nun nimmt sich die slowenische Regisseurin sein Drama "Antigone" vor. Das Stück um die Tochter des Ödipus erzählt von einem Kampf um die Macht. Ihre Brüder streiten um den Herrschaftsanspruch in Theben. Ihre zunächst getroffene Vereinbarung, sich den Thron zu teilen und abwechseln zu herrschen, geht nicht auf. Eteokles will die Macht nicht an Polyneikes abgeben, dieser greift die Stadt an. Beide kommen im Kampf ums Leben. Polyneikes, der Angreifer, gilt als Landesverräter und darf nicht bestattet werden. Antigone will das nicht hinnehmen.

AZ: Frau Koležnik: Auf das Drama des Vaters folgt nun das seiner Tochter. Was fasziniert Sie an diesen antiken Stoffen?

MATEJA KOLEŽNIK: Es ist der Autor, der mich fasziniert. Die Texte von Sophokles haben in all der Zeit nichts an Relevanz verloren. Die Motivationen der Figuren sind pur, klar und logisch, psychologisch genau und bis heute modern. Auf der anderen Seite bettet Sophokles seine Stücke immer in einen größeren Kontext ein. Da ist immer das Bewusstsein, dass die Figuren mit jeder persönlichen Entscheidung auch Verantwortung tragen für die Konsequenzen ihrer Handlungen. Seine Fähigkeit, dramatische Situationen zu schaffen, in denen das Persönliche und das Gesellschaftliche so ausgewogen sind, ist einfach phänomenal.

Sie verweben das Drama von Sophokles mit dem Stück "Die drei Leben der Antigone" des slowenischen Philosophen Slavoj Žižek. Was ist seine Lesart des Konflikts?

Žižek untersucht die Figuren in seinem Stück kritisch und schonungslos. Er schaut aus einem neuen Blickwinkel auf Antigone. Sein Chor beurteilt ihre Handlungen sehr kritisch - eine Sicht, die wir in den Interpretationen und Analysen sonst selten finden. Er lässt den Chor Dinge sagen wie: "Aber wie soll deine Rücksicht auf die Toten den Lebenden nützen oder schaden?" oder "Wir sehen nun, dass das Gesetz, dem du gehorchst, nur dir und deinem Bruder gilt; es geht nicht um Respekt für die Verstorbenen, nur um ein Mädchen, dem man sein letztes Spielzeug nahm."

Würden Sie sich dieser Kritik anschließen?

Ich denke, es gibt hier nicht nur richtig oder nur falsch. Žižek lässt Fragen aufploppen, die auch mich während der strengen Corona-Lockdowns geplagt haben: Realisieren wir unsere Privilegien und die Verantwortung, die wir durch unsere Position tragen? Sind wir uns bewusst, welche Auswirkungen unsere persönlichen Entscheidungen und Überzeugungen auf die Gesellschaft haben? Kümmert uns das überhaupt? Wann ist es möglich und nötig, persönliche Überzeugungen als egoistisch zu bezeichnen?

Wie haben Sie beide Stücke miteinander verknüpft?

Die Dramaturgin Diana Koloini und ich haben uns überlegt, im ersten Akt Sophokles' Antigone zu zeigen und im zweiten die von Žižek. So können wir, um es einfach zu sagen, beide Sichtweisen auf dieselben Ereignisse zeigen. Zuerst sehen wir die Dialoge zwischen Antigone, Ismene, Kreon, Haimon und so weiter. In Kürze: die Szenen zwischen den Figuren, die Sophokles geschrieben hat. Die andere Perspektive zeigt dann die Beurteilungen, Meinungen und Kommentare der Chormitglieder, die die Handlungen und Entscheidungen der königlichen Familie mitverfolgen.

Und wie geht das Ganze aus?

Žižek spielt verschiedene Varianten durch. In einer der Versionen schneidet ein rasender Mob Kreon die Kehle durch, als dieser versucht, den toten Polyneikes zu beerdigen. Ich komme aus einem Land, in dem wir alle 30 bis 50 Jahre Krieg haben, wo seit Generationen niemand in demselben Land geboren und begraben wurde. Ich weiß genau, wie populistisch und einfach es ist, Helden und Verräter auszurufen. Auch, wie gefährlich es ist, Verwandte kurz nach Kriegsende begraben zu wollen, wenn sie für die falsche Seite gefallen sind. So endet auch das Stück. Brutal und keine Spur von großmütig.

Ist das eine Erfahrung, die Sie persönlich in Ihrer Heimat Slowenien gemacht haben?

In Slowenien sind wir bis heute Gefangene der Kluft, die sich während des Zweiten Weltkriegs aufgetan hat. Der Kluft zwischen Sympathisanten und Gegnern des Kommunismus. Die Menschen, die den Kommunismus fürchteten, kämpften damals auf Seite der deutschen Truppen. Als die Kommunisten den Krieg gewonnen hatten, war ihre Rache grausam und unmenschlich. Diese Wunde ist bis heute nicht verheilt.

In "Antigone" steht das persönliche Recht und Gewissen Antigones der Staatsräson diametral gegenüber. Ist dieser Konflikt zwischen Ratio und Gefühl überhaupt lösbar?

Ich wünschte, ich hätte Antworten auf diese Frage. Habe ich aber nicht. Ich hatte sie auch nicht, als die Impf-Befürworter und die Impf-Gegner miteinander stritten. Das Einzige, was ich weiß und woran ich wirklich glaube, ist, dass der größte Fehler unserer Zeit der totale Mangel an Dialog ist, an Toleranz und persönlicher Verantwortung.

Auch in der Ukraine gehen die Konfliktlinien teilweise direkt durch Familien. Die Menschheit scheint sich nicht so arg viel weiterzuentwickeln. Beziehen Sie diese traurige Aktualität in Ihre Inszenierung ein? Wo und wann verorten Sie die Handlung?

Ich habe den Eindruck, dass es überall auf der Welt, wo in einer Region verschiedene Kulturen, Nationen oder Religionen zusammentreffen, ein Risiko für derartige Konflikte besteht. In einer Krisensituation muss da nur ein Populist oder Gewaltherrscher kommen, um aus Nachbarn oder Freunden Feinde zu machen. Mein Team und ich bemühen uns sehr, der Inszenierung keinen geographischen oder zeitlichen Stempel aufzudrücken. Ich würde mir wünschen, dass es so archetypisch und präzise wird, dass es gestern spielen könnte, aber eben auch heute oder morgen.

Premiere 28. Januar, wieder am 31. Januar, 16. und 22. Februar