Cannes im Endspurt

Auf der Suche nach Erlösung


Aus dem Spaß eines Filmkusses wird Ernst: Matthias (Gabriel D'Almeida Freitas, li.) und Maxime (Xavier Dolan) in einer Szene des Films "Matthias und Maxime".

Aus dem Spaß eines Filmkusses wird Ernst: Matthias (Gabriel D'Almeida Freitas, li.) und Maxime (Xavier Dolan) in einer Szene des Films "Matthias und Maxime".

Von Adrian Prechtel / TV/Medien

Zwei bewegende Filme auf der Zielgeraden des Wettbewerbs in Cannes, der in diesem Jahr einen klaren Favoriten hat: "Portrait de la Jeune Fille en Feu"

Süßer Vogel Jugend, diese Momente der Leichtigkeit, in denen einem die Welt zu gehören scheint, in denen noch alles möglich ist. Aber auch alles so kompliziert sein kann, so verwirrend, so qualvoll. Davon erzählt der kanadische Regisseur Xavier Dolan in "Matthias und Maxime". Matthias und Max sind Freunde, Teil einer eingeschworenen Jungs-Clique, geprägt von Frotzelei und Rauflust, aber auch der Wärme einer Gemeinschaft. Doch ihre Empfindungen für einander scheinen weiter zu gehen. Als eine Wette sie dazu zwingt, sich für einen Studentenfilm vor laufender Kamera zu küssen, ist für beide nichts mehr, wie es war.

Ein Kuss bringt alles durcheinander

Den Kuss zeigt Dolan nicht, eine Schwarzblende markiert das Ende der vermeintlichen emotionalen Gewissheit und den Anfang eines Wettlaufs mit der Zeit. Denn Maxime, den der Regisseur selbst spielt, will in zwei Wochen nach Australien auswandern. Werden sich die beiden bis dahin über ihre Liebe im Klaren sein, sie dem anderen gestehen?

Vor allem Matthias (Gabriel D'Almeida-Freitas) ist nachhaltig erschüttert. An der Oberfläche läuft sein normales, biederes Leben weiter, mit verständnisvoller Freundin und tollen Karriere-Aussichten in der Anwaltskanzlei. Im seinem Innern aber tobt ein Sturm, der manchmal nervös ausbricht, meist aber mühsam unter der Decke gehalten wird, etwa wenn sein Blick abschweift zu einer vertrockneten Büropflanze, die ihm wie ein Orakel seiner Zukunft erscheint. Dolan findet starke Bilder, die ganz nah an seinen Protagonisten sind, unterlegt mit einem Soundtrack, der wirkt, als würde gerade der jeweils zur Gefühlslage passende Song im Radio gespielt. Eine der stärksten Szenen des Films ist der Morgen nach dem Kuss, als Matthias sich ins Wasser stürzt und einfach davon krault. Er flieht vor sich selbst, vor den anderen, geht verloren im Blau der unendlichen Wasserfläche. Auch Maxime will fliehen, aus seinem Leben, in dem er sich die Verantwortung für seine alkoholkranke und depressive Mutter aufgebürdet hat. Weg aus der Spirale von Hoffnungslosigkeit und Gewalt, die ihn selbst zu zerstören droht. Das Verhältnis der Söhne zu ihren Müttern (die Väter sind hier grundsätzlich abwesend) ist, wie oft bei Dolan, eine wichtige Handlungsebene. Dass solch ein Verhältnis auch über die Lebenschancen des Einzelnen entscheidet, arbeitet Dolan subtil heraus. Großer Applaus beim Premieren-Publikum.

Ist Frankreich so heruntergekommen wie Desplechin es zeigt?

"Roubaix La Lumiere" ist der dritte Wettbewerbsfilm mit einem melancholischen Polizisten als Hauptfigur. Kein anderer Held ist so hart konfrontiert mit menschlichen Abgründen, und so dient das Krimi-Genre hier in erster Linie dazu, vom gegenwärtigen trostlosen Zustand unserer Welt zu erzählen.

Die nordfranzösische Stadt Roubaix, die Arnaud Desplechin in seinem Film porträtiert und in der er groß geworden ist, trägt apokalyptische Züge. Heruntergekommene Häuser, getaucht in das fahle Licht der Straßenlaternen. Es ist fast immer Nacht, und durch diese Nacht schwebt der schlaflose Polizeichef Daoud als gütiger und zugleich strafender Engel.

Denn "Roubaix La Lumiere" ist nicht nur ein Polizeifilm, sondern auch eine Heiligenlegende. Und die Stadt ist Sodom und Gomorra, ein Ort der verlorenen Seelen, an dem das Verbrechen regiert. Hoch über Stadt erzählt der Polizeichef Daoud dem neu eingetroffenen Kollegen Louis von der untergegangenen Welt seiner Kindheit. Nun regieren Armut, Arbeitslosigkeit und Drogen. Daouds Familie ist zurück nach Algerien geflohen, er selbst ist geblieben. "Wie hältst du dieses Elend aus", fragt Louis, der seinen Idealismus schnell verliert und abends Gott anfleht, ihn das Verzeihen zu lehren. "Das Elend ist nichts", antwortet Daoud mysteriös. "Es gibt ja das Licht." Das Licht, das steht hier für die Wahrheit, die Daoud auf fast mysteriöse Weise den Menschen entlockt.

Lea Seydoux ist eine Frau wie Raskolnikow

Das Verbrechen kann er nicht ungeschehen machen. Aber in dem Moment, indem der Mensch sich dazu bekennt, tritt so etwas wie Erlösung ein. Behaupten die christliche Lehre und dieser Film. Und so sehen wir Claude (Lea Seydoux), eine junge Frau, die aus Habgier ihre alte Nachbarin getötet hat, wie sie nach dem Verhör mit Daoud ihre Strafe antritt, schwer beladen, aber doch befreit. Desplechin gelingt es, trotz der religiösen Überhöhung seiner Figuren einen realistischen Film über eine Region im Niedergang zu machen. Es gibt viele Roubaix in Europa.

Celine Sciamma: Frau, bildstark, elegant: Das riecht nach Palmenparfüm!

Schon auf der Zielgeraden des festivals zeichnet sich ab: Das Kino wendet sich wieder vermehrt dem Genre zu, dem Krimi, Horror, Thriller oder Science Fiction. Der beunruhigenden Gegenwart rückt man wohl am besten zu Leibe, indem man sie einerseits verfremdet, andererseits in vertrauten Mustern bändigt. Und: Es liegt eine große Melancholie über den Figuren und Geschichten. Selbst bei Tarantino, dessen Helden Ritter der traurigen Gestalt sind und sich in einer Zeit bewegen, in der die Klamotten bunter und die Musik und Autos cooler waren. Das intensivste Kinoerlebnis, in diesem Wettbewerb hat bislang ein Film beschert, der uns auf eine abgelegene Insel, in eine Frauenwelt im 18. Jahrhundert entführt. "Portrait de la Jeune Fille en Feu" von Celine Sciamma ist der Favorit bei Publikum und Kritik.