Kinderarmut in Deutschland

Grüne und Kinderschutzbund fordern: Grundsicherung für Kinder!


Immer mehr Kinder sind in Deutschland von Armut betroffen. (Symbolbild)

Immer mehr Kinder sind in Deutschland von Armut betroffen. (Symbolbild)

Von Romana Bauer

Eine Grünen-Politikerin und der Präsident des Kinderschutzbundes fordern von der GroKo eine Grundsicherung für Kinder. Ihre Gründe.

Der 70-jährige SPD-Politiker Heinz Hilgers ist bereits seit 1993 Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes.

Der 70-jährige SPD-Politiker Heinz Hilgers ist bereits seit 1993 Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes.

AZ: Herr Hilgers, wie weit verbreitet ist die Kinderarmut in diesem Land?
HEINZ HILGERS: Wenn Sie die Kinder in Familien, die staatliche Leistungen zur Existenzsicherung erhalten oder in verdeckter Armut leben, zusammen zählen, dann ist jedes dritte Kind in Deutschland von Armut betroffen - und das bedeutet für viele, dass sie weniger als das Existenzminimum haben.

Was heißt das in Zahlen?
HILGERS: Das sind rund 4,4 Millionen Kinder von knapp 13 Millionen. Das sind deutlich mehr als die rund drei Millionen Kinder, für die der Staat Sozialleistungen zahlt, damit ihr Existenzminimum gedeckt ist.

Wie kommt diese hohe Zahl zustande?
HILGERS: Das ist richtig, drei Millionen Kinder beziehen staatliche Leistungen. Hinzu kommt aber eine Dunkelziffer von rund 1,4 Millionen Kindern, die eigentlich auch einen Anspruch darauf hätten, diese aber nicht beantragen. Das ist sogar regierungsamtlich bestätigt.

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Wie kommt das?
HILGERS: Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Im Familienministerium liegt ein Referentenentwurf für ein Gesetz zur Stärkung der Familien. Da kalkuliert die Regierung beim Familienzuschlag, den Geringverdiener erhalten, die für sich und ihre Familie das Existenzminimum nicht erreichen, mit einer Quote von lediglich 35 Prozent bei der Inanspruchnahme der Leistung.

Das heißt, zwei Drittel von denen, die einen Anspruch darauf hätten, beantragen es erst gar nicht?
HILGERS: Ja, weil sie es entweder nicht wissen oder weil sie an den hohen bürokratischen Hürden scheitern.

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Nun hat die Große Koalition eben in Bundestag und Bundesrat ein großes Paket für die Familien verabschiedet. So steigen das Kindergeld pro Monat um zehn Euro pro Kind auf nunmehr 204 Euro fürs erste und zweite Kind sowie der Steuerfreibetrag auf 7620 Euro. Ist das ausreichend, um Kinderarmut zu bekämpfen?
HILGERS: Das ist vor allem nicht zielgerichtet. Es führt dazu, dass die Schere zwischen denen, die hohe Einkommen haben und von dem höheren Freibetrag profitieren, und jenen, die wenig haben und nur das Kindergeld bekommen, noch weiter auseinandergeht. Noch dazu wirkt die Freibetragserhöhung bereits zum 1. Januar, die Kindergelderhöhung kommt aber erst zum 1. Juli. Und wer auf Hartz IV angewiesen ist, hat davon überhaupt nichts, weil die Kindergelderhöhung angerechnet wird.

Die 47-jährige Ekin Deligöz ist Sozialexpertin von Bündnis 90/Die Grünen und seit 1998 Mitglied des Bundestages.

Die 47-jährige Ekin Deligöz ist Sozialexpertin von Bündnis 90/Die Grünen und seit 1998 Mitglied des Bundestages.

Ist das eine Aufforderung an die Politik, das zu ändern?
EKIN DELIGÖZ: Definitiv. Mit dieser Gesetzesänderung ist es so: Wer viel verdient, bekommt vom Staat ein großes Paket. Wer mittelprächtig verdient, bekommt ein mittelmäßiges Päckchen. Und wer wenig verdient oder gar von Armut betroffen ist, bekommt überhaupt nichts. Das widerspricht meinem Gerechtigkeitsempfinden, dass uns Kinder unterschiedlich viel wert sind. Viele werden alleine gelassen.

Was müsste geschehen?
DELIGÖZ: Viel einfacher wäre es, eine pauschale Grundsicherung für Kinder einzuführen. Alle Kinder sind dem Staat gleich viel wert, alle Kinder bekommen die gleiche Unterstützung - und das Ganze erfolgt einfach und unbürokratisch. Eine Vereinfachung und Ausweitung des Kinderzuschlags ist als Zwischenetappe denkbar. Und es sollte eine zusätzliche Unterstützung von Alleinerziehenden enthalten sein.

Auch der Mindestlohn steigt im neuen Jahr auf dann 9,19 Euro pro Stunde - genug, um eine Familie zu ernähren?
Hilgers: Das zeigt doch die ganze Problematik: Wenn Sie 9,19 Euro bekommen und eine günstige Wohnung haben, können Sie als Alleinstehender einigermaßen davon leben. Mit einem Kind bräuchte ein Alleinstehender zwölf Euro Mindestlohn, mit zwei Kindern 15 Euro, alleine um das Existenzminimum zu halten. Das ist ökonomisch Unsinn und zeigt, was beim Familienleistungsausgleich nicht stimmt.

Wie muss dieser Ausgleich aussehen?
HILGERS: Wir brauchen, wie Ekin Deligöz gesagt hat, die Grundsicherung für Kinder zur Sicherung des Existenzminimums. Damit entfiele die gesamte Bürokratie, weil alle anderen Leistungen wie Kinderfreibetrag, Kindergeld, Kinderzuschuss, Unterhaltsvorschuss oder Teilhabepaket wegfallen.

DELIGÖZ: Die Idee ist: Es gibt einen einheitlichen, existenzsichernden Betrag pro Kind - und den bekommen alle Kinder. Dieser Betrag ist auch nicht gestaffelt. Heute ist es ja so, je höher das Einkommen, desto höher die Freibetragswirkung. Mit der Kindergrundsicherung können wir eine Unzahl an Leistungen bündeln, wir haben doch schon längst den Überblick verloren, was es alles gibt, weil das von den unterschiedlichsten Lebenslagen abhängt. Alle Kinder sind uns damit gleich viel wert.