Kultur

Sinnlichkeit und Haferdrink

Bei der ersten regulären Berlinale seit drei Jahren sind fünf deutsche Beiträge im Wettbewerb vertreten


Marlene Burow als Maria im deutschen Wettbewerbsbeitrag "Irgendwann werden wir uns alles erzählen" von Emily Atef.

Marlene Burow als Maria im deutschen Wettbewerbsbeitrag "Irgendwann werden wir uns alles erzählen" von Emily Atef.

Von Margret Köhler

Endlich gibt es nach 2020 wieder eine "reguläre" Berlinale. Keine Reduzierung der Platzkapazitäten, keine Maske und keine Tests. Aber es fehlen auch die Kinos am Potsdamer Platz, die sonst bei der Berlinale mitmachten. Das CineStar ist schon lange geschlossen, im CinemaXX finden nur noch Presse und Marktvorführungen statt. Der beliebte Friedrichstadtpalast mit 1895 Plätzen, ein Publikumsmagnet seit 2009, ist wegen Renovierung dicht. So müssen die Zuschauer Filme in ihrem Kiez sehen oder durch die Stadt reisen. Das weltweit größte Publikumsfestival hat kein Zentrum.

Ob die Massen wirklich nur zum Promi- Auflauf auf dem Roten Teppich vor dem Berlinale-Palast kommen? Trotz alledem sollte man die Attraktion des Festivals man nicht unterschätzen, allein schon als Wirtschaftsfaktor für die Stadt. Durch den Eventcharakter lockt die Berlinale vielleicht auch Menschen an, an die sonst das Kino meiden und so wieder Lust auf Film spüren. Und das Gesamtprogramm mit über 280 Filmen aus 67 Ländern macht neugierig mit seiner Vielfalt an Themen und Genres, vom Spielfilm, Dokumentarfilm, Animationsfilm bis hin zum Experimentalfilm.

Ein Goldener Bären, die Trophäe der Berlinale, der Internationalen Filmfestspiele Berlin. Die Berlinale findet vom 10. bis zum 20. Februar statt.

Ein Goldener Bären, die Trophäe der Berlinale, der Internationalen Filmfestspiele Berlin. Die Berlinale findet vom 10. bis zum 20. Februar statt.

So zeigen sich der künstlerische Leiter Carlo Chatrian und Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek auch optimistisch, dass die Atmosphäre am Berlinale-Palast die Fans anzieht und versprechen nicht nur deutsche Stars wie Sandra Hüller oder Susanne Wolff, die in "Sisi und ich" in der Reihe Panorama den Mythos der österreichischen Kaiserin durch die feministische Brille entzaubern. Glanz strahlt vor allem außerhalb des Wettbewerbs.

Internationale Prominenz wie Helen Mirren ("Golda"), Willem Dafoe als Kunstdieb ("Inside") oder John Malkovich und Geraldine Chaplin (in der Satire "Seneca") haben sich angekündigt. Und wenn Hollywoodstar Sean Penn und Aaron Kaufmann die Doku "Superpower" (Berlinale Special) über Präsident Selinskyj und den russischen Angriffskrieg in einer Galavorführung in der Verti Music Hall in Friedrichshain vorstellen, ist Trubel garantiert, wie auch bei Regie-Ikone Steven Spielberg, der für sein Lebenswerk im Berlinale Palast geehrt wird. Neben seinem neuesten Werk "The Fablemans" über eine Kindheit in den 1950er Jahren mit biografischen Elementen ist die Hommage-Reihe mit acht Filmen von "E.T. - Der Außerirdische" bis zu seinem wohl bedeutendstem Werk "Schindlers Liste" bestückt. Kino statt Knast: Der Doku-Kracher "Boom! Boom! The World vs. Boris Becker" mit dem gefallenen Tennishelden auf dem Teppich sollte auch nicht film-affine Leute anziehen.

Und wenn Cate Blanchett als fiktive Komponistin und Dirigentin der Berliner Philharmoniker in "Tár" ihr charmantes Lächeln zeigt, werden alle dahinschmelzen. Wobei es etwas seltsam anmutet, einen beim Filmfestival Venedig bereits hochgelobten und ausgezeichneten Film erneut auf der Berlinale zu präsentieren. Kritik daran weist Kulturstaatsministerin Claudia Roth zurück, für sie zeugt das von "Selbstbewusstsein". Immerhin ein interessanter Aspekt.

Die Berlinale finanziert sich über Ticketverkäufe, Sponsering und Zuschüsse vom Bund. Und die Organisatoren können aufatmen, über die Grundförderung von 10,7 Mio Euro hat Roth, die ihren Kabinettsmitgliedern fröhlich eine Liste mit Filmtipps schickte, einen zusätzlichen Obulus von 2,2 Mio Euro angekündigt. Die bekennende Filmliebhaberin rechnet sogar bestens gelaunt mit mehr als 300 000 Besucher wie vor der Pandemie.

Lange Schlangen wie einst oder Fans, die nachts in Schlafsäcken vor den Schaltern kampieren, das ist vorbei. Zwar gibt es noch Tickets am Schalter, aber Karten sollen digital geordert werden, was viele Berliner ärgert, wie auch die erhöhten Eintrittspreise. Das Leitungsduo, dessen Vertragsverlängerung im nächsten Jahr ansteht, hat es wahrlich nicht leicht im Jahr der weltweiten politischen Krisen. Besondere Aktivitäten und Solidaritätsdemonstrationen sind für den Iran und die Ukraine geplant, vor allem zum Jahrestag des russischen Überfalls. Der Berlinale-Anstecker ist in diesem Jahr in den ukrainischen Nationalfarben gehalten.

Die Jury unter der mit 32 Jahren jüngsten Jurypräsidentin Kristen Stewart, die demnächst die 2004 gestorbene Philosophin und politisch Aktivistin Susan Sontag unter der Regie von Kirsten Johnsen spielen wird, steht vor einer schwierigen Aufgabe, bei 19 Filmen den "Goldenen Bären" zu küren wie die Einzelleistungen in den unterschiedlichen Gewerken.

Gespannt sein darf man, ob die fünf deutschen Wettbewerbsbeiträge wirklich herausragend sind oder mangels internationaler Alternativen den Joker zogen. Chatrian betonte in der "Berliner Zeitung", es sei seine Pflicht, die deutsche Filmindustrie zu unterstützen. "Aber auch hier gilt: Es gibt keine Quote". Dieses Jahr sei ein "sehr starkes Jahr für den deutschen Film". Lassen wir uns überraschen, ob die drei Repräsentanten der so genannten "Berliner Schule", die in den 1990er Jahren für Innovation stand, neue Kraft und neue Wege entwickeln. Christoph Hochhäusler ("Bis ans Ende der Nacht"), Christian Petzold ("Roter Himmel") und Angela Schanelec ("Music") ist das zuzutrauen. Emily Atefs Drama "Irgendwann werden wir uns alles erzählen" nach Daniela Kriens Romanvorlage verspricht jedenfalls eine Exkursion in Sinnlichkeit pur zu sein. Chatrian äußerte sich im "Tagesspiegel" euphorisch: "Einer der seltenen Filme, in denen man Körper förmlich riechen kann" Und Margarethe von Trotta, die am 21. Februar ihren 81. Geburtstag feiert, erhält mit der Premiere von "Ingeborg Bachmann - Reise in die Wüste" über die radikale Schriftstellerin und ihre Beziehung zu Max Frisch schon zwei Tage vorher ein tolles Geburtstagsgeschenk.

Bei der heutigen Eröffnung der 73. Berlinale wird wohl der ukrainische Präsident Wolodymyr Selinskyj wie in Cannes und Venedig mit einer Rede zugeschaltet sein. Das Rennen um den Goldenen und die Silbernen Bären eröffnet Rebecca Millers romantischer New York-Komödie "She Came to Me". Erwartet werden die Schauspieler Anne Hathaway und Peter Dinklage.

Gendergerechtigkeit und Nachhaltigkeit heißen die Zauberworte. Der Rote Teppich ist aus recyceltem Plastik und alten Fischernetzen, beleuchtet wird mit LED-Lampen, das Catering ist selbstverständlich vegetarisch. Tierische Milchprodukte sind "pfui", auf allen offiziellen Berlinale Veranstaltungen, selbst am mobilen Kaffeestand, wird der Kaffee mit Haferdrink serviert und bei der heutigen Gala-Party können mutige Gäste mit einem Eis auf Haferbasis rechnen.