Kultur

Hacken wie die Hähne

Brennende Dörfer, bleischweres Erbe: "Was suchst du, Wolf?", der Roman der belarussischen Autorin Eva Vieznaviec


Eva Vieznaviec.

Eva Vieznaviec.

Von Roberta De Righi

Die Soldaten des Zaren, Stalins Schergen, Hitlers Wehrmacht: in Belarus haben sie alle besinnungslos gewütet. Opfer war stets die Zivilbevölkerung, darunter zigtausende Jüdinnen und Juden. Von der vor dem Zweiten Weltkrieg rund 950 000 starken jüdischen Bevölkerung, die im Zarenreich dort angesiedelt worden war, wurden 800 000 von den Nazis ermordet.

"Erst kamen die Deutschen und jagten die Juden, dann kamen die Polen und jagten die Juden, dann kamen die Sowjets, und die Juden atmeten ein bisschen durch." In ihrem Roman "Was suchst du, Wolf?", der jetzt erstmals auf Deutsch erscheint, komprimiert die belarussische Journalistin und Autorin Eva Vieznaviec die Geschichte der "Bloodlands", wie der Historiker Timothy Snyder die einstigen Sowjetrepubliken südwestlich von Moskau nannte. Anders als Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch schreibt Eva Vieznaviec auf Belarussisch. In einer Sprache, die bereits Stalin auszulöschen versuchte, indem er systematisch die weißrussische Intelligenzija ermorden ließ. Und die Diktator Lukaschenka - das "a" am Ende ist die weißrussische Form - wieder zur Amtssprache machte.

Der Blutrausch des 20. Jahrhunderts wird bei der Autorin konsequent aus der Perspektive der Frauen geschildert. Und die Lektüre entwickelt eine Wucht, die lange nachhallt. Was auch an der Rahmengeschichte liegt: Ryna, alleinstehend, vom Leben abgebrüht, um die 50, lernt man als routinierte Trinkerin kennen. Den Job als Altenpflegerin in Deutschland hat sie deswegen gerade verloren. Man begleitet sie auf ihrem Weg zur Beerdigung der mehr als hundertjährigen Großmutter in die Heimat, ein winziges Dorf in den Polesischen Sümpfen im Südwesten des Landes.

Darin spiegelt Viezneviec die Schichten von Vergangenheit: In der Rückschau erzählt Großmutter Daroschka der Enkelin ihre Erinnerungen. "In den Jahren von 1918 bis 1922 war hier ein solches Durcheinander, dass neun Mal die Macht wechselte, und jeder sieben Häute von Blut abziehen konnte." Nach 1941 toben Wehrmacht und Rote Armee: "Die Deutschen ließen die Belarussen in Ruhe. Ihr Auftrag waren Juden, Kommunisten und die Sowjetmacht."

Unzählige Dörfer brennen. Denunziationen und falsche Anschuldigungen sorgen dafür, dass keiner vor nichts sicher ist. "Herrje, das waren Zeiten. Nachts die Partisanen: Gib, gib, gib! Am Tag die Polizei und die Deutschen. Und noch die Belagerer, Rotarmisten. Die tranken, als sei ihr letzter Tag." Die Hoffnung stirbt auch nach Ende des "Großen Vaterländischen Krieges" schnell. Es geht stets zu Lasten der einfachen Leute.

Vieznaviec verwandelt die Gräuel-Chroniken in beklemmend lebendige Literatur. Im Erlenwald gibt es Granattrichter, "die noch nach Jahrzehnten nicht an Tiefe verloren haben" und unweit vom Dorf liegt ein Stein, der sich von selbst bewegt. Es ist ein verfluchter Landstrich, in den Sümpfen wuchert auch der Hexen- und Aberglauben. Eine solche "Hexe" ist auch Daroschka, wie schon deren Großmutter. Sie kennen die Wirkung der Kräuter, kümmern sich um die an Körper und Geist Versehrten, die vielen vergewaltigten Frauen.

Die Großmutter zieht ihre eigenen Schlüsse: "Was macht es für einen Unterschied - Deutscher, Russe, Pole, Belarusse? Alles dieselbe leere Art - Männer. Wie Hähne auf dem Hof: Die Augen pickten sie einander aus, griffen Menschen und Hunde an."

Nur der sanftmütige, kluge Orka Barenboim ist anders. Als Daroschka überlegt, ihn zu heiraten, sagt die Mutter: "Dummchen, er ist Jude. Alle Juden werden erschlagen, schneller als du blinzeln kannst." Orka nimmt sich, nachdem er Pogrome und Massaker als einziger überlebt, selbst das Leben. Der Gott der Gemetzel ist gnadenlos.

Und es ist klar, warum Ryna trinkt. Die Gewaltgeschichte ist ein bleischweres Erbe, und dieser der schmale Band von 140 Seiten verdichtete Wirklichkeit. "Nichts davon ist ausgedacht, weil ich die kollektive Erinnerung der Menschen hochhalten will", sagt Eva Vieznaviec. Es sind die Orte ihrer Kindheit und Jugend, die sie beschreibt. Als ihre eigene Großmutter neunzigjährig starb, sagte diese, "sie habe in ihrem ganzen Leben nichts Gutes gesehen."

Vieznaviec lebt heute in Polen, hat zuletzt im Herbst 2019 ihre alten Eltern besucht und kann nicht mehr nach Hause fahren, weil ihr Gefängnis droht. "Die Diktatur nahm mir meine Heimat. Ich fühle mich schuldig, weil ich mein unglückliches, unfreies Land verlassen habe. Die Russen vernichten die Ukraine durch Völkermord, Belarus durch Ethnozid", erklärt sie.

Erstaunlich ist, dass "Was suchst du, Wolf?" trotz allem nicht hoffnungslos endet. Wie kann man die Traumata überwinden, ohne dass sie in weiteren Generationen nachwirken? Für die Autorin ist das Buch "Versuch einer Therapie". Eva Vieznaviec sagt: "Nicht weinen, nicht lachen, sondern verstehen."

Eva Vieznaviec: "Was suchst du, Wolf?" (Zsolnay Verlag, 141 Seiten, 22 Euro)